S-Bahnhof Frankfurter Allee. Nur Eingeweihte können hinter dem jungen Vietnamesen, der scheinbar teilnahmslos an einer Ecke kauert, einen Zigarettenverkäufer vermuten. Fragt ein Kunde, dann nickt der Vietnamese einem Landsmann zu, der ein paar Meter entfernt steht. Der holt aus einem Versteck eine Stange Zigaretten hervor, bringt sie dem Kontaktmann, der sie dem Kunden weiterreicht. Das Geld kassiert ein Dritter.
Doch nicht mehr überall im Osten Berlins verkaufen Vietnamesen heute die Kippen am Fiskus vorbei. Die einschlägigen Plätze vor vielen Aldi-Märkten sind ebenso verwaist wie die an den S-Bahnhöfen Jannowitzbrücke, Karlshorst oder Köpenick. "Seit November haben wir einen deutlichen Rückgang der Verkaufstätigkeit", sagt Klaus Gäth von der gemeinsamen Ermittlungsgruppe Zigarettenhandel, die dem Zoll und den Landespolizeien Berlin und Brandenburg untersteht. Auf genauere Angaben will der Beamte sich nicht festlegen. Insider sprechen von einem Rückgang des illegalen Zigarettenverkaufes um 50 Prozent in den ostdeutschen Bundesländern. Das ist ein Durchschnitt: Während der Umsatz draußen im Berliner Speckgürtel kaum zurückging, ist er beispielsweise in Teilen Sachsens völlig zusammengebrochen.
Die Nachfrage ihrer Kunden nach billigem Rauchwerk sei wegen der gestiegenen Zigarettenpreise ungebrochen, sagt Nga (*). Sie stammt aus einer der ärmsten Provinzen in Mittelvietnam, ist Anfang 40 und verkauft nach wie vor in Berlin. Wohl fühlt sie sich nicht, wenn sie zwei Pullover und zwei Jacken übereinander zieht, lange Männerunterhosen gegen die Kälte trägt und ihre Ware anbietet. Aber wenn ihr am Monatsende 800 Mark übrig bleiben, die sie auf dunklen Wegen an die Familie in Vietnam schicken kann, dann entschädigt sie das für Mühe und Gefahr. Das Zimmer im Wohnheim, das sie sich mit zwei anderen Vietnamesinnen teilt, kostet fast nichts, das Meiste zahlt sie für Schutzgeld. Auch ins Gefängnis würde sie gehen. Ngas Geld ermöglicht der Familie in Vietnam das Überleben. Je mehr sie schickt, desto größer ist ihr Ansehen bei den Verwandten. Nur das zählt.
Vietnamesen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus, die wie Nga das Risiko einer Polizeirazzia nicht scheuen, gibt es in Berlin noch immer genug. Der Grund für den Rückgang des Schwarzmarktes ist ein anderer. Der Schmuggel versiegt. "Bundesweit hat die Polizei im Jahre 2000 über eine Milliarde Zigaretten beschlagnahmt", sagt der Ermittler Gäth. Das ist ein deutlicher Anstieg gegenüber den Vorjahren, in denen die Zahl um die 600 Millionen pendelte. "Wir haben im vergangenen Jahr mehrere Organisationen aufgedeckt, die Zigaretten hierher bringen." Die Köpfe der Schmuggelbanden seien Polen, Litauer, Deutsche und Ukrainer. Vietnamesen wären in den Verteilketten nur das letzte Glied, eben als Straßenhändler, erzählt Gäth weiter.
Schutzgelder im Sinkflug
Wolfgang Wieland, der Fraktionsvorsitzende der Bündnisgrünen im Berliner Abgeordnetenhaus, der sich Mitte der neunziger Jahre intensiv mit dem Zigarettenhandel und der einhergehenden Begleitkriminalität befasst hat, vermutet hinter dem fehlenden Nachschub auch einen politischen Erfolg der Europäischen Kommission. "Die Finanzkommissarin Michaele Schreyer hat im vergangenen November die Tabakindustrie verklagt. Wahrscheinlich bringt das jetzt erste Resultate." Der Vorwurf gegen die amerikanischen Unternehmen Philip Morris und RJ Reynolds lautet auf "vermutete Beteiligung am Zigarettenschmuggel in die EU". Schreyer will die Tabakkonzerne für finanzielle Verluste des europäischen Steuerzahlers zur Kasse bitten. Welche Beweise sie für den Verdacht hat, darüber schweigt sich die EU zwar aus, sicher aber ist: Die Zigarettenindustrie hat nichts gegen den Schmuggel. Wird unverzollte Rauchware beschlagnahmt und vernichtet, verdienen die Hersteller doppelt: Für die vernichteten Zigaretten wurde an sie schon bezahlt, und für die an ihrer Stelle gerauchten kassieren sie noch einmal.
Auch die vietnamesischen Mafiabanden, die von den Straßenhändlern Schutzgelder erpressen, wurden durch den fehlenden Nachschub geschwächt. 1.000 Mark müssten die Verkäufer heute für einen Verkaufsplatz pro Monat als "Steuer" abführen, sagt Manfred Schweizer vom Landeskriminalamt Berlin. Bei sehr guten Verkaufsplätzen werden auch schon einmal 2.000 Mark erpresst. Noch vor zwei Jahren aber seien Summen zwischen 2.000 und 10.000 Mark üblich gewesen. Schweizer: "Die Banden sind in der letzten Zeit kleiner und schwächer geworden." Den letzen Mord im Milieu gab es 1998, danach allerdings noch mehrere versuchte Tötungsdelikte. Unter Vietnamesen wird allerdings gemunkelt, dass die Zigarettenmafia sich inzwischen auch auf die Erpressung von ausländischen Textilien- und Lebensmittelgroßhändlern sowie Betreibern von Markthallen verlegt hätte. Diese Gerüchte kennt auch die Polizei. Schweizer: "Aber verwertbare Aussagen dazu fehlen uns."
"Viele ehemalige Zigarettenverkäufer suchen sich heute andere Einkommensquellen", sagt Huy (*), der die Straße kennt. Denn nach wie vor lebt eine große Zahl von Vietnamesen in Deutschland, die nach deutschem Recht kein Aufenthaltsrecht haben, von ihrem Heimatland aber nicht zurückgenommen werden. "Einige gehen schwarz arbeiten und borgen sich dazu Pässe und Steuerkarten von legal hier lebenden Landsleuten, die gerade krank oder arbeitslos sind", sagt er. Tamara Hentschel von der Beratungsstelle Reistrommel beobachtet mit Sorge, wie immer mehr junge vietnamesische Asylbewerber inzwischen in Diebesbanden durch die Kaufhäuser ziehen. In geringem Umfang habe auch Drogenkonsum begonnen. Die verbreitetste Tendenz sei aber der "Familiendienst": Legal hier lebende Vietnamesen, die oft als Ehepaar gemeinsam ein Gewerbe ausüben und nicht selten einen Vierzehnstundentag arbeiten, "adoptieren" einen Flüchtling in ihre Familie. Während sie Geld verdienen, kauft der ein, kümmert sich um den Haushalt und die Kinder. Wenn die Familie beispielsweise einen Imbiss betreibt, macht sich der "Adoptierte" oft auch mit Gemüseschneiden in der Wohnung nützlich. Dafür werden die Flüchtlinge nicht nur mit einem Stück familiärer Geborgenheit und landestypischer Verpflegung entschädigt, sie erhalten auch einige hundert Mark Bargeld, ähnlich wie ein Au-Pair.
"Das ist meine Schwester. Sie holt die Kinder jetzt jeden Tag ab", hat Lan(*) der Erzieherin erzählt, als sie ihr 21-jähriges Adoptivmädchen in der Kita vorstellte. Auch wenn die beiden nach deutschen Maßstäben keine Schwestern sind, so ganz falsch scheint für Lan die Behauptung nicht zu sein. Eines Tages hatte sie einen Brief von ihrer Lehrerin aus Hanoi erhalten. Die schrieb, die Enkeltochter ihres Mannes aus erster Ehe lebe jetzt in Berlin, und bat, sich um das Mädchen zu kümmern "wie um eine Schwester". Weil die konfuzianisch erzogene Lan das Wort ihrer Lehrerin lebenslänglich befolgt, nennt sie die Frau also mit ruhigem Gewissen Schwester. Seit die in ihrem Haushalt lebt, müssen die Kinder nicht mehr abends in der Kälte vor dem Imbiss stehen, in dem Lan bis 19 Uhr Chinarollen verkauft. Einen Diebstahl durch das Mädchen muss sie nicht fürchten. Lan würde deren Stiefgroßmutter informieren. Die Schande nähme keine junge Frau auf sich.
Aufenthaltsrecht für Au-Pair-Mädchen
Tamara Hentschel von der Reistrommel hat seit Jahren ernsthafte kulturelle Konflikte in vietnamesischen Familien beobachtet. "Wir kennen Teenager, die ihre Eltern verlassen, weil sie deren traditionelle, autoritäre Werte nicht akzeptieren." Für vietnamesische Eltern ist es selbstverständlich, bis spätabends zu arbeiten, ohne sich um die Kinder zu sorgen. In Vietnam arbeiten die Eltern, die Kinder werden entweder von älteren Geschwistern, nachdem sie mit elf, zwölf Jahren die Schule verlassen haben, betreut, oder aber von den Großeltern. Diese Familienmitglieder fehlen aber den in Deutschland lebenden Vietnamesen. Sie sind völlig verständnislos, wenn von ihnen verlangt wird, sich um ältere Kinder zu kümmern. Mit 14, 15 ist man nach vietnamesischem Verständnis erwachsen, geht arbeiten, ist selbstverständlich bemüht, den guten Ruf der Familie zu wahren.
Die Verständigung in vietnamesischen Familien ist zudem schwierig, weil die Kinder oft nur deutsch sprechen, was viele Eltern schlecht verstehen. Hentschel: "Oft merken Vietnamesen erst, dass ihren Kindern die emotionale Nähe fehlt, wenn es zu spät ist." Der Schock sei dann groß, denn diese emotionale Nähe haben Vietnamesen nie in Frage gestellt. Die Sozialarbeiterin sieht die Tendenz zu vietnamesischen Familienhelferinnen deshalb positiv. "Dadurch lernen die Kinder die Sprache und Kultur ihrer Eltern kennen. Das kann zu mehr gegenseitigem Verständnis führen."
Der PDS-Flüchtlingsberater Klaus-Jürgen Dahler fordert deshalb die Legalisierung solcher Arbeitsverhältnisse. "Die Arbeitserlaubnisverordnung muss dahingehend verändert werden, dass abgelehnte Asylbewerber, die nicht ausreisen dürfen, auch über eine Au-Pair-Tätigkeit ein Aufenthaltsrecht erwerben."
(*) Namen geändert
In der folgenden Ausgabe erzählt Marina Mai über Vietnamesen, die mit ihren Zigaretten von Berlin an die deutsch-tschechische Grenze gegangen sind, dort aber auch rechtsextreme Videos an der Straße anbieten.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.