Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus sind wichtige Themen für Historiker und Publizisten, die sich mit der Geschichte der DDR und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten beschäftigen. Hingegen sind die Ausländer selbst, die in der DDR lebten und damit konfrontiert wurden, bisher kein akademisches Thema gewesen. Forschung und Publizistik zeichnen ein monokulturelles Bild der DDR.
Über die mit Abstand größte Gruppe unter den 191.000 Migranten in der DDR, die 60.000 ehemaligen Vertragsarbeiter aus Vietnam, gab es bisher lediglich sogenannte graue Literatur, herausgegeben in der Regel von Migrantenvereinen selbst und studentische Qualifikationsarbeiten. Somit kommt dem von der Potsdamer Sozialpädagogin Karin Weiss und dem Historiker aus dem britischen Wolverhampton, Mike Dennis, herausgegebenen Sammelband eine Pionierrolle zu. Die Autoren - Deutsche, Briten und Vietnamesen - spannen den Bogen über die Zeit der DDR hinaus und erzählen die Geschichte der damaligen Vertragsarbeiter bis in die Gegenwart.
Das Buch wurde ermöglicht aufgrund einer guten akademischen Tradition in Großbritannien: An vielen Universitäten auf der Insel gibt es seit langem Lehrstühle zur deutschen Geschichte. Und dort kommen Forschungsthemen zu akademischen Weihen, die hierzulande gar nicht oder viel später in den Blick geraten.
Integration von Zuwanderern gab es in der DDR nicht. Doch sie benötigte in den achtziger Jahren Arbeitskräfte, über die sie nicht selbst verfügte. In anderen sozialistischen Staaten herrschte Arbeitslosigkeit. Was lag näher, als von dort Arbeitskräfte anzuwerben? Befristet sollten sie kommen und nach spätestens fünf Jahren wieder zurückkehren. Die DDR unterließ es, ihre Bürger über die Gründe für die Anwerbung zu unterrichten, vor allem die trostlose wirtschaftliche Situation in Vietnam galt als Tabuthema. Offiziell ging es um sozialistische Bruderhilfe und die Ausbildung vietnamesischer Fachkräfte.
Vertragspartner waren die Staaten DDR und Vietnam: Vietnam stellte Arbeitskräfte zur Verfügung und erhielt dafür Geld, die DDR überwies einen Teil von deren Löhnen und Sozialabgaben auf ein vietnamesisches Staatskonto. Sie diktierte auch die Bedingungen: Die Menschen durften nur auf dem zugewiesenen Arbeitsplatz arbeiten, im zugewiesenen Wohnheim in einem Mehrbettzimmer mit Landsleuten gemeinsam unter der Aufsicht von vietnamesischen Gruppenleitern und deutschen Wohnheimbetreuern wohnen. Sie durften keine Familien gründen. Schwangere Frauen hatten die Wahl zwischen Abtreibung und vorzeitiger Heimreise. Dennoch kamen alle Vertragsarbeiter freiwillig, denn sie konnten hier Geld verdienen, das ihre Großfamilien dringend benötigten.
Mike Dennis weist in seinem Beitrag nach, dass die Migranten trotz engmaschiger Kontrollen individuelle Gestaltungsräume schufen und nutzten: Vietnamesen fertigten nach Schichtschluss arbeitsteilig organisiert Jeanshosen und Jacken, die in der DDR Mangelware waren und verkauften sie an DDR-Bürger. Das missfiel der DDR-Regierung. Die Stasi in Riesa etwa notierte, DDR-Bürger wären der Meinung gewesen: "Die Vietnamesen sind besser und schneller als unsere Dienstleistungsbetriebe. Dort muss man Glück haben, ehe man einen Termin bekommt, und dann wartet man noch wochenlang." In einem Stimmungsbericht der Stasi in Gröditz heißt es: "Die Vietnamesen verursachen Fehlschichten und lassen sich krankschreiben, nur um Hosen zu nähen." Und kaum zu glauben: Vietnamesen streikten nach den Protokollen der Stasi, weil sie mit Lohn oder Zollbestimmungen für die Ausfuhr nach Vietnam unzufrieden waren.
Während Mike Dennis Geschichte "von oben", aus den Akten der DDR-Behörden rekonstruiert, schreiben sie die Britin Eva Kolinsky und die Deutsche Karin Weiss "von unten". Sie haben narrative Interviews mit Vietnamesen geführt und die Publikationen der vietnamesischen Vereine in Deutschland durchforstet.
Ausländerfeindlichkeit erlebten die Vertragsarbeiter vor allem während der Wende und zu Beginn der neunziger Jahre in Form massiver Übergriffe. Weder in der DDR noch im denkwürdigen Herbst 2000, in dem der Bundeskanzler den "Aufstand der Anständigen" ausrief und Fremdenfeindlichkeit zu einem öffentlichen Thema wurde, haben sie Ähnliches erlebt. Viele Vietnamesen sehnen sich sogar nach der DDR zurück, in der sie immerhin ein geregeltes Gehalt bekamen und nur selten Feindschaften erlebten.
Weiß und Kolinsky verweisen auf die Sprachbarriere innerhalb vietnamesischer Familien, die größer ist als in anderen Migrantengruppen. Die erste Generation wurde in der DDR nie zum Deutschlernen angehalten. Auch nicht nach der Wende: Sie mussten schnell Geld verdienen, um bleiben zu dürfen. Da fehlte die Zeit zum Deutschlernen. Inzwischen haben sich in den ostdeutschen Großstädten soziale und wirtschaftliche Strukturen zwischen vietnamesischen Händlern verfestigt, innerhalb derer man Vietnamesisch spricht. Hingegen wurde die zweite Generation in deutschen Kitas sozialisiert und spricht deshalb perfekt Deutsch. Weil die Eltern selbstständig sind und auch an Wochenenden arbeiten, fehlt allerdings die Familienzeit, in der die Kinder ihre Muttersprache erlernen. In der Pubertät bricht somit in vietnamesischen Familien die Kommunikation oft völlig zusammen.
Da Jugendliche, die in Schulen liberal erzogen werden, mit den strengen Autoritätsstrukturen innerhalb der konfuzianisch geprägten Familie nicht zurecht kommen, reagieren sie oft mit psychischen Problemen, verleumden im schlimmsten Fall ihre kulturelle Identität. Bei der Darstellung der Familienbeziehungen sind Rückgriffe der Autorinnen auf Familienstrukturen in Vietnam nicht immer geglückt. So wird an verschiedenen Stellen fälschlicherweise behauptet, dort sei die Mutter für die Kindererziehung allein zuständig. Das trifft nicht zu. Vielmehr ist es Aufgabe junger Frauen, nach Abschluss der Stillzeit Geld für die Großfamilie zu verdienen. Die Kinder werden im Familienverbund von älteren Geschwistern, Cousins und Cousinen oder Großeltern betreut und erzogen. Weil den vietnamesischen Familien in Deutschland die Großeltern fehlen und die älteren Kinder zur Schule gehen, ist die Betreuung hier ein Problem.
Die im Band enthaltenen Beiträge vietnamesischer Autoren sind mit einer Ausnahme reine Erfahrungsberichte. Das Fehlen sozialwissenschaftlicher Beiträge durch vietnamesische Autoren ist Ergebnis der Arbeitsmarktpolitik nach der Wende: Die wenigen Historiker und Sozialwissenschaftler aus Vietnam, die in der DDR ausgebildet wurden, hatten auf dem akademischen Arbeitsmarkt keine Chance. Sie verdienten ihr Geld als Gerichtsdolmetscher. Und die zweite Generation ist noch zu jung, um auf dem akademischen Arbeitsmarkt präsent zu sein.
So interessant der Band ist, so sehr wird der Lesefluss doch durch zahlreiche Schreib- und Umbruchfehler, uneinheitliche Zitierweise und andere formale Mängel gestört, die durch ein sorgfältiges Lektorat verhindert worden wären. Der Lit-Verlag gilt als Billigverlag, der vor allem Dissertationen druckt, die durch die Doktoranden selbst redigiert und lektoriert werden. Ein international angelegtes Forschungsprojekt, das inhaltlich durchaus Pionierarbeit leistet, hätte mehr Sorgfalt auf die Wahl eines Verlages legen sollen.
Karin Weiss/Mike Dennis (Hrsg.): Erfolg in der Nische? Die Vietnamesen in der DDR und in Ostdeutschland. Lit-Verlag, Münster 2005, 170 S., 29,90 EUR
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