Ein Wagen mit Pirnaer Kennzeichen fährt vor. Der Fahrer nickt Kim, "seinem" vietnamesischen Verkäufer freundlich zu. Der schleppt schon die erste Kiste zum Wagen. Eine Kiste Bier, eine Kiste Fanta, wie immer. Der Rentner aus dem sächsischen Bischofswerda ist Stammkunde auf dem Vietnamesenmarkt im tschechischen Grenzdorf Dolni Poustevna. Gemeinsam laden die beiden Männer die leeren Getränkekisten aus. "Ich kaufe heute noch etwas für die Enkel zu Ostern", sagt der Kunde. Die Männer sprechen deutsch miteinander. Immerhin hat Kim vier Jahre lang in Berlin gelebt.
Gewohnt hat er in der Rhinstraße, erzählt Kim, als der Kunde weg ist. Er stapelt die Leergutflaschen und ist nicht sehr gesprächig. Ja, er hat als Asylbewerber in Deutschland gelebt, l&
gelebt, lässt er sich aus der Nase ziehen. "Nicht arbeiten, nur Zigaretten. Und Polizei. Das war nicht gut." Da sei er eben nach Tschechien gegangen, wie viele Landsleute vor ihm. "Hier verdiene ich gut. Und das Bier schmeckt besser." Und Ärger mit der Polizei gäbe es hier auch nicht, sein Geschäft sei legal. 400 Mark zahlt er Monatsmiete an den Marktbesitzer. Der sei auch Vietnamese und Millionär. Wie er über die Grenze gekommen ist, will er nicht sagen. Er verrät nur: "Aus Deutschland rauszukommen ist nicht so schwer wie rein."Etwa 3.000 Einwohner leben in dem gottverlassenen Dolni Poustevna, südlich des sächsischen Sebnitz. Wobei "gottverlassen" durchaus wörtlich zu nehmen ist, denn nicht nur viele Wohnhäuser und sämtliche Fabriken sind seit Jahren menschenleer, auch die Dorfkirche ist verfallen. Bis 1945 haben in diesem nördlichsten Zipfel Böhmens, der in drei Himmelsrichtungen von Deutschland umgeben ist, etwa 60 Prozent Sudeten gewohnt. Nach dem Willen der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges mussten fast alle ausreisen. Häuser standen leer und zerfielen, Fabriken wurden in die wirtschaftlich schwächere slowakische Teilrepublik verlagert. Der Rest fiel in den neunziger Jahren dem Niedergang der Industrie zum Opfer. Seitdem sind die Wälder der einzige Reichtum der Region. Eine zünftige Wildmahlzeit mit böhmischen Knödeln und Salat ist in einem guten Restaurant schon für 10 Mark zu haben. Außer vom Reichtum der Wälder leben die Menschen hier von den deutschen Grenzgängern. Ein Tscheche, der einen Friseursalon, eine Tankstelle oder eine Physiotherapiepraxis betreibt, kann von deutschen Kunden leben. Die Touristenshops jedoch sind fest in den Händen der Vietnamesen. In Dolni Poustevna stellen sie jeden dritten Einwohner. Sie haben eigene wirtschaftliche und soziale Strukturen. Die Spanne zwischen arm und reich ist breit. Die Marktbesitzer sind schwerreich. Wer seinen Stand in der letzten Ecke des Marktes aufbauen muss, hat wenig zum Leben. Dann wanderte langsam Laden für Laden in vietnamesische Hand Das Dorf ist keine Ausnahme, überall in den tschechischen Grenzorten zu Deutschland und Österreich haben sich vietnamesische Gemeinden angesiedelt, die vom Verkauf von Kleidung, Lebensmitteln und Getränken, böhmischem Glas und CDs an Touristen leben. Nach offiziellen Angaben halten sich in Tschechien, das 10 Millionen Einwohner hat, 23.556 Vietnamesen auf. Nach Slowaken und Ukrainern stellen sie damit unter den 201.000 Ausländern die drittgrößte Gruppe. Pavel Kelly-Tychtl, der Leiter der Organisation für Flüchtlingshilfe in Prag, vermutet, dass gerade bei Vietnamesen die wirkliche Zahl deutlich höher liegt.Die ersten Vietnamesen kamen 1980 als Vertragsarbeiter in die damalige C?SSR. Von den insgesamt 60.000 lebten etwa 35.000 in der tschechischen Teilrepublik. "Zusammen mit den Kubanern waren die Vietnamesen die erste Ausländergruppe, die in größerer Zahl in unser Land kam", sagt Kelly-Tychtl. "Die Tschechen und Slowaken waren unvorbereitet und reagierten etwas abweisend. Vietnamesen lebten unter sich und hatten keine wirklichen Kontakte zur Gesellschaft." Auch in der DDR ließ sich die Situation der vietnamesischen Vertragsarbeiter nicht anders charakterisieren. Es hätte zwar Ehen zwischen Vietnamesen und Einheimischen gegeben, aber das sei eine Randerscheinung gewesen und auch in der C?SSR "von der Mehrheit als exotisch belächelt" worden. Wie ihre in die DDR entsandten Kollegen verließen auch die meisten der in der Tschechoslowakei lebenden Vertragsarbeiter 1990 das Land. Die Zahl der Vietnamesen ging von 35.000 auf unter 10.000 zurück. Und ähnlich wie im Ostdeutschland der Nachwendezeit arbeiteten die Verbliebenen als selbständige Gewerbetreibende. Rassistische Attacken wie gegen Roma gab es kaum.Seit der Grenzübergang zwischen Sebnitz und Dolni Poustevna 1995 geöffnet wurde, gibt es den Grenzhandel und die Vietnamesen. "Zuerst hat ein Vietnamese ein Stück Brachland an der Grenze gekauft und darauf dann den Markt errichtet", sagt der Sebnitzer Kraftfahrer Heinz Selenko. "Dann wanderte ein Laden nach dem anderen in vietnamesische Hand." Heute werden nur noch die Apotheke, ein Schreib- und ein Miederwarenladen von Tschechen betrieben. Diese Läden erkennt man an den fein dekorierten Schaufenstern und dem Schild mit den Öffnungszeiten an der Tür. Um 17 Uhr wird geschlossen. Vietnamesen halten nichts davon - weder von Schaufenstergestaltung noch von Öffnungszeiten oder gar freien Wochenenden. Geöffnet ist, solange Kunden in den Laden kommen, meist bis 20 Uhr und an Wochenenden sowieso. Die Verkaufsware lagert wie in Discountern in Kisten. Das macht den Verkauf billiger und die Vietnamesen zu den reichsten Leuten im Ort.Miroslaw Hradek wohnt in S?luknov, einer Kleinstadt nahe Dolni Poustevna. Der arbeitslose junge Mann kauft gern bei vietnamesischen Händlern. "Ein Paar Schuhe kostet in De?c?in bei tschechischen Verkäufern 500 Kronen. Auf dem Vietnamesenmarkt bekommt man sie schon für 200." Gegen Vietnamesen hat er nichts, denn "die sind fleißig und kümmern sich um ihre Häuser". Schnell fügt er noch hinzu: "Lieber zehn Vietnamesen als ein Russe oder ein Zigeuner im Ort." Auch in S?luknov haben in den letzten Monaten zwei Vietnamesen Läden gekauft, die werden aber erst renoviert. "Die haben dem Hausbesitzer weit mehr Geld geboten als jeder tschechische Händler", sagt Hradek. "Die Hausbesitzer profitieren davon." Viele Vietnamesen kamen mit der Ausreise nur ihrer Abschiebung in die Heimat zuvorAls Kim 1995 nach Tschechien ging, hatte Deutschland mit Vietnam gerade ein Rückübernahmeabkommen geschlossen. Seitdem ist Deutschland der einzige europäische Staat, der Vietnamesen gegen ihren Willen nach Vietnam abschieben kann. Doch nach Verständnis Hanois haben Asylbewerber aus Vietnam ihre Heimat illegal verlassen und ihr Rückkehrrecht damit verwirkt. Um sich der 40.000 oft Zigaretten verkaufenden Südostasiaten trotzdem entledigen zu können, gewährte Deutschland Vietnam Entwicklungshilfe und Exportbürgschaften, die zuvor auf Eis lagen. Als Gegenleistung verpflichtete sich Hanoi, die Landsleute wieder aufzunehmen. Viele Vietnamesen kamen der Abschiebung zuvor, indem sie in einen Staat ausreisten, der kein solches Abkommen geschlossen hatte. 40 bis 50 Prozent der dafür vorgesehenen Vietnamesen würden sich der Abschiebung entziehen und untertauchen, kritisierte der damalige Bonner Innenstaatssekretär und heutige Brandenburger Justizminister Kurt Schelter (CSU) bereits im Juli 1997. Seine Kritik zielte auf die schleppende Erfüllung des Abkommens durch Hanoi. Dass viele einfach in "sichere Drittstaaten" emigrierten, hatte er dabei wohl weniger im Auge.Tschechien ist zwar das beliebteste, aber nicht das einzige Land, in das Vietnamesen aus Deutschland weiterwandern. Auch Polen, Ungarn, die Niederlande, Kanada, in letzter Zeit sogar Russland sind die Zielländer. Andere Vietnamesen kamen erst nach Tschechien, nachdem sie bereits von Deutschland nach Vietnam abgeschoben wurden. Neben der funktionierenden vietnamesischen Gemeinschaft, über die neu eintreffende Landsleute erste Kontakte aufnehmen können, machte auch eine liberale Ausländergesetzgebung Tschechien attraktiv. Wer 110.000 tschechische Kronen investiert, umgerechnet etwa 6.000 Mark, kann ein eigenes Gewerbe anmelden. Untereinander verleihen die Vietnamesen Geld, um die Investitionssumme aufbringen zu können. Wird das Gewerbe von den Behörden genehmigt, kann man seinen Lebensunterhalt verdienen und hat ein legales Aufenthaltsrecht erworben. Allerdings hat Tschechien zu Beginn des Jahres 2000 ein schärferes Ausländergesetz erlassen, um dem Schengener Abkommen beitreten zu können. Seitdem ist es weitaus schwieriger, die Gewerbegenehmigung zu bekommen.Trotz Verbot liegen neben Levis ohne Lizenz CDs mit rechtsradikaler MusikIn Decin, der nächstgelegenen größeren Stadt mit 56.000 Einwohnern, sollen nach offiziellen Angaben lediglich 39 Vietnamesen leben. Auch wenn es wahrscheinlicher etwa 100 sind, die Zuwanderer aus Südostasien stellen in dem schmucken Städtchen eine krasse Minderheit dar. Die Läden gehören Tschechen, werden fein dekoriert und schließen pünktlich um 17 Uhr. Zwei von drei "Asia-Shops", die es in der historischen Altstadt gibt, präsentieren ebenfalls tschechische Verkaufskultur haben ihre Waren, zumeist Kleidung, geschmackvoll im Schaufenster dekoriert. Lediglich der Discounter gegenüber vom Bahnhof macht sich nicht die Mühe. Neben einem Supermarkt ist er der einzige Laden am Platze, der am Sonntag geöffnet hat. Anders als in Dolni Poustevna kassiert der Mann tschechische Kronen statt deutsche Mark.Die geringere vietnamesische Präsenz in der Stadt liegt nicht allein an den 20 Kilometern bis zur deutschen Grenze und zu wenigen deutschen Kunden. Decin ist eine Stadt, in der zu sozialistischen Zeiten die Wirtschaft florierte. Die leeren Häuser, die die Deutschen nach dem Krieg zurückließen, wurden rasch von Tschechen bevölkert, die in der Stadt Arbeit fanden. Auch heute muss kaum ein Ladeninhaber in dem wohlhabenden Verwaltungssitz sein Geschäft aufgeben. So verkaufen die Vietnamesen ihre Ware eben 20 Kilometer weiter in dem Grenzörtchen Hrensko, direkt hinter dem Zollhaus."Kraftschlag" steht auf einer CD, die ein Vietnamese dort anbietet. Und damit auch Uneingeweihte wissen, welche Art von Musik zwischen Herbert Grönemeyer und Stefan Raab liegt, steht eingerahmt in SS-Runen: "Trotz Verbot nicht tot". Der Verkäufer hat wohl gehört, dass diese CD "nicht gut" sein soll. Aber sie wird gekauft. Von Deutschen, sehr jungen Männern, die ordentlich mit einem Zehnmarkschein bezahlen. Damit besteht für den Mann kein Grund zur Beunruhigung.Die besteht allerdings für den sächsischen Landesverband der SPD. Er hat sich mit der Bitte an die tschechischen Sozialdemokraten gewandt, den Verkauf solcher CDs, der seit wenigen Wochen auch in Tschechien gesetzlich verboten ist, endlich auch behördlich einzuschränken. Der Pirnaer SPD-Mann Klaus Fiedler hat deshalb den Parlamentsabgeordneten Vladimir Las?tu°vka angesprochen. "Er hat zugesagt, unser Anliegen zu unterstützen. Ich hatte gehofft, der CD-Verkauf hätte sich inzwischen erledigt."Auch in Dolni Poustevna bietet eine Standnachbarin von Kim CDs mit rechtsradikaler Musik an: "Ganz Deutschland hört Landser". Kim kann die Kritik am Verkauf dieser CDs nicht verstehen. In Deutschland bekam er Probleme mit der Polizei, wenn er Zigaretten verkaufte. In Tschechien bekommen seine Landsleute Probleme, wenn sie Levis, Nike oder Kleidung mit Disney-Figuren verkaufen, die ohne Lizenz produziert wurden. Doch weil sie billiger als die echten Sachen sind, finden sie reißenden Absatz. Auch die CDs sind gefragt. Was Kim verkauft, ist ihm eigentlich ebenso egal, wie der Ort, wo er verkauft. Ob hier in Dolni Poustevna oder Berlin - für Kim ist es die einzige Möglichkeit, seine Familie in der Armutsprovinz Quang Binh zu unterstützen. Nur das zählt. "Wenn es hier nicht gut läuft, bin ich nächstes Jahr vielleicht in Moskau. Oder wieder in Berlin."Der erste Teil dieser Reportage erschien in der Ausgabe 15 vom 6.4.2001: Heute schneidet Lan Karotten
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