Wenn Jürgen Behr, Ministerialrat im rheinland-pfälzischen Justizministerium, nachts nicht schlafen kann, dann hat er die besten Ideen. So war das auch vor fünf Jahren. Da bereitete dem Juristen, der für die Sicherheit in den Gefängnissen des Landes zuständig ist, das Strafvollzugsgesetz schlaflose Nächte. Das regelt in Paragraph 19, wie der Gefangene seinen Haftraum ausstatten kann: "In angemessenem Umfang" steht da im ersten Absatz. Und im zweiten heißt es: "Gegenstände, die die Übersichtlichkeit des Haftraumes behindern, können ausgeschlossen werden". "Alles unbestimmte Rechtsbegriffe", stöhnt der altgediente Jurist. Denn was bitte sei angemessen? Was unübersichtlich? Diese Unklarheiten, erzählt Behr, hätten st
ändig für Streit und Ärger zwischen den Gefangenen und den Beamten gesorgt. Damit ist es dank Behr vorbei. Und die Lösung, findet er, ist denkbar einfach: Zellen, die nicht innerhalb von vier Stunden zu kontrollieren sind, sind unübersichtlich. Fünf Jahre lang hat sich eine Arbeitsgruppe im Ministerium intensiv mit Behrs Idee beschäftigt und ein Verfahren entwickelt, das jetzt in allen elf Justizvollzugsanstalten des Landes eingeführt worden ist: das Refa-System. Es ist eine Methode aus der freien Wirtschaft, die schon 1924 vom Reichsauschuss für Arbeitszeitermittlung (REFA) angewandt wurde. Jeder Arbeitsablauf, jeder Handgriff, wird mit "Zeitwertpunkten" versehen. Und so machten das auch die Mainzer: Alles, was sich in einem Haftraum befinden kann, von den Gittern bis zur Unterhose, wurde kontrolliert, die Zeit gestoppt, Durchschnittswerte ermittelt. Und das für jede einzelne der elf Haftanstalten. Insgesamt 5000 Messungen führten sie durch. Das Ergebnis dieser Studie können die Gefangenen jetzt in der Hausordung nachlesen: Die Summe der Gegenstände in einem Haftraum darf den Höchstwert von 2400 Punkten nicht überschreiten. Wer mehr hat, muss entscheiden, was er herausgibt. Das fällt besonders den Gefangenen, die lange Haftstrafen verbüßen, schwer. Von mehr als der Hälfte seines Haftraumbesitzes müsse er sich trennen, klagt ein Gefangener, der in Diez eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt. Von Büchern und Erinnerungsfotos, von Briefen, alles Dinge, die genehmigt waren und bisher nie als unübersichtlich galten. Auch andere Gefangene murren: Die Punkte seien willkürlich festgelegt und überhaupt nicht nachvollziehbar. "Wieso", beschwert sich einer bei der Strafvollstreckungskammer in Koblenz, "hat ein CD-Player 9 Punkte, ein Radiogerät 7 Punkte, ein Radiogerät mit CD-Player aber 25 Punkte?" Aus seiner Sicht erfordere das doch weniger Kontrollaufwand. Die Punkteliste, die den Gefangenen vorgelegt wurde, gibt in der Tat zu denken: So benötigt man für die Kontrolle von langen Unterhosen 18 Sekunden (das sind 3 Punkte), für Pantoffeln oder einen Wecker genauso lange. Rommee-Karten stehen mit 20 Punkten, also zwei Minuten, auf der Liste, für die Kontrolle des kartenärmeren Uno-Spieles benötigt man sechs Sekunden mehr. Für eine Tageszeitung wie die Süddeutsche werden 19 Punkte berechnet, günstiger aber sind zwei Zeitschriften: Focus und Spiegel machen zusammen nur 16 Punkte. Muss der Beamte eine Telefonkarte wirklich sechs Sekunden lang (1 Punkt) in der Hand halten, um sicher zu sein, dass da nichts versteckt ist? Einen Tischtennisball gar zwölf Sekunden. Und wieso braucht man für Tennissocken, die der Anstalt gehören, 18 Sekunden, für private Tennissocken dagegen 24 Sekunden. Regierungsrätin Angelika Feils, die der Arbeitsgruppe im Ministerium angehört, findet das logisch: "Für Dinge, die man nicht so kennt, braucht man eben länger." Richtig Punkte bringt der Schriftverkehr mit Anwälten und Gerichtsakten. Ein A4-Ordner mit 250 Blättern macht 82 Punkte, zehn Briefumschläge à zwei Blättern schon 50. Bei einem Lebenslänglichen, der ein Wiederaufnahmeverfahren betreiben will und noch ein paar Gesetzesbücher in der Zelle hat, sind da schnell 500 Punkte weg. Da muss man sich entscheiden. So weit das möglich ist, denn auf gut die Hälfte seiner Einrichtung hat der Gefangene keinen Einfluss: Bauliche Gegebenheiten, die Heizung und Lüftung, Bett, Schrank, Waschbecken und Toilette, das ganze Haftrauminventar, sind mit Punkten versehen: 726 Punkte macht das in der JVA Frankenthal, 536 in der JVA Diez. Hinzu kommen rund 250 Punkte Anstaltseigentum, dazu zählen Gefangenenkleidung, Handtücher, Bettbezüge, die ebenfalls in jeder Zelle zu sein haben, egal, ob der Gefangene will oder nicht. Und auch der Gefangene selbst schlägt zu Buche: 43 Punkte, also rund viereinhalb Minuten, werden für die Durchsuchung des nackten Körpers veranschlagt. Er könne gerne gehen, soll einer gewitzelt haben. Andere finden es "menschenunwürdig". Das aber, kommentiert das Ministerium, seien "nur die üblichen Querulanten". Die Mehrzahl der Gefangenen sei glücklich und zufrieden mit der neuen Methode. Das System, das es bisher nur in Rheinland-Pfalz gibt, freut sich Behr, sorge schließlich für Transparenz. Auch juristisch sei man auf festem Boden. Das Oberlandesgericht in Zweibrücken hat die Klage eines Gefangenen abgelehnt: Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass allzu zeitraubende und komplizierte Kontrollen unzumutbar sind, sei das Refa-System vertretbar, entschieden die Richter. Den Beamten im Vollzug kann die neue Richtlinie zur Haftraumausstattung egal sein: Es ginge nicht darum, erläutert Angelika Feils, die Arbeitszeit der Beamten zu kontrollieren. Denn bei so etwas hätten die Personalräte auch nicht mitgespielt. Die vier Stunden Kontrollzeit lägen nur der Rechnung zugrunde. Wie lange die Kontrolle aber wirklich dauere, bleibe weiter den Beamten überlassen: "Die machen das genauso wie bisher auch." Die Gefangenen sind derweil am Rechnen. Und wer das im Kopf macht, kann sparen: drei Punkte. Soviel kostet ein Taschenrechner.
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