Der Rhön-Putsch

Subkultur Es gibt sie noch, die Nonkonformisten und Gegenöffentlichkeitsautoren. Einmal im Jahr versammeln sie sich auf der Alm. Die Provinzlesung zieht immer größere Kreise

Als Bert Papenfuß verkündete, dass der Prenzlauer Konnektör, der bislang zusammen mit Florian Günthers DreckSack als eine Zeitschrift erschien, eingestellt und in Zukunft von der Zeitschrift Sigyn abgelöst werden wird, schien Florian Günther darüber nicht sonderlich betrübt und deklamierte seine Gedichte über die Schwierigkeiten der Liebe aus der Sicht eines passionierten in die Jahre kommenden Berliner Kneipengängers. Es war wieder so weit: Auf der kalten Buche in Rhön, zwischen den Ortschaften Weisbach und Ginolfs auf der Jungviehweide traf sich am vergangenen Wochenende bereits zum sechsten Mal die Crème de la Crème der undogmatischen linken Literaten. Gastgeber der Provinzlesung war Peter Engstler, der 1987 in der Rhön den Peter Engstler Verlag gegründet hatte.

Aufgebaute Zelte standen neben der Hütte auf der Alm im Bayerischen Mittelgebirge. Die Zuhörer saßen auf Bierbänken und hielten ihre Köpfe in die Julisonne. Vorn am Lesetisch stieg manch einem Autor, der auf die Gutmenschen und Interdentalbürstenverwender wetterte, auch die Röte ins Gesicht. Nach Einbruch der Dunkelheit zogen alle in den ehemaligen Kuhstall um oder wärmten sich am Lagerfeuer. Die Provinzlesung zieht immer größere Kreise. Es ist wohl das gemütliche Ambiente, der unkonventionelle Charakter, der mehr als 80 Verleger, Autoren, Übersetzer, Künstler, Performer und Interessenten den weiten Weg von Frankfurt und Mainz, von Kalifornien und Norwegen auf sich nehmen lässt, um sich zum Vernetzen und Austauschen zu treffen und die neu erschienene Literatur zu hören.

Zweites Standbein

Heike Schmitz las aus Unsereiner – Kriegsundführerkinder. Ein Denk- und Sprechfluss überrollte atemlos das Publikum und lotete die deutsche Sprache bis ans Ende des Kommunizierbaren aus. Gekonnt schilderte die Autorin, welcher Last Kinder ausgesetzt sind, die geboren wurden, als Hitler an die Macht kam. Wie eine Litanei setzt sie Erinnerungsfragmente und NS-Phrasen aneinander und zeigt, wovon Führerkinder und Enkelkinder geprägt sind und wann Denkverbote und Familienlügen entschlüsselt werden.


Peter Engstler, selbst gesellschaftskritischer Lyriker, funktionierte 1984 im Provinznest Ostheim eine alte Bäckerei zu einer Bücherei um. Zweimal in der Woche ist sie geöffnet, es finden regelmäßig Lesungen und Vorträge statt, den Rest der Woche betreut er geistig Behinderte. In seinem Sub-Verlag Medien Streu veröffentlicht er Literatur abseits vom Mainstream, schafft subversive Realitäten und wahrt durch sein zweites Standbein den Anspruch auf Unabhängigkeit. 1987 bekam Engstler erstmals eine Einladung zur Frankfurter Buchmesse, die er jedes zweite Jahr annimmt. Im traditionellen Literaturbetrieb präsentiert er die Subkultur und Gegenöffentlichkeit. In den Jahren dazwischen organisiert er die Provinzlesung auf der Kalten Buche. Schon einige seiner Autoren wurden international entdeckt und ausgezeichnet wie Paulus Böhmer, der 2010 den Hölty-Preis für seine Langgedicht-Trilogie Am Meer. An Land. Bei mir. verliehen bekam.

Aktionssprache

Etwa vier bis fünf Buchtitel erscheinen jährlich im kleinen Verlag, dazu noch an die 120 CDs und Tapes. Literaturzeitschriften wie der sporadisch veröffentlichte Sanitäter sind ein Schlüsselorgan für die Vermittlung von Gegenkultur im deutschen Raum. Engstlers Themen sind die literarische Avantgarde, revolutionäre Kunsttheorien, der Proletkult und die Antipsychiatrie. Dort, wo Literatur an gesellschaftliche Strukturen andockt, lassen die von Engstler verlegten Schriftsteller Schnittstellen und Brüche entstehen, die sich beispielsweise in der Cut-up-Literatur eines William S. Burroughs manifestieren und in Deutschland vor allem von Jürgen Ploog, Carl Weissner und der Beat Generation angenommen wurden. Beat hat noch immer ein politisches und gesellschaftskritisches Potenzial und ist nicht gänzlich zur Popliteratur verniedlicht. Jörg Burkhard beeinflusste in den achtziger Jahren die Szene durch seine nichtlineare Schreibweise, Sprache an sich wurde zum Thema. Seine Aktionssprache hat er beibehalten, und die Lesung auf der Jungviehheide mündete ins Performative, als er am Abend durchs Megafon ohne Punkt und Komma von einem Endlosblatt Alte Fürze aus neuen Löchern ins Publikum schrie und sich über 20-Jährige mit dem IQ eines Neugeborenen erregte. Fast ging ihm bei den Substantivketten und den losgetretenen Sprachrhythmen die Puste aus. Es war eine Mischung aus Anarchismus, proletarischer Nostalgie, Kritik am Hier und Heute, an der Waren- und Wegwerfwelt, die an den zwei Abenden hauptsächlich zur Sprache kamen.

Die Lesung blieb aber nicht in einer Retrostimmung stecken. Helmut Höge fasste in Kairo-Virus die Chronik der jüngsten Aufstände in den arabischen Ländern zusammen und beobachtet, wie der arabische Frühling und die Ereignisse auf dem Kairoer Tahrirplatz vom Subjekt zum Objekt mutierten. Revolution ist so ansteckend wie ein Virus, der sich ausbreitet und verformt, deswegen hält Höge die Ereignisse regelmäßig im tazblog fest. Er verwertet Tickermeldungen von Nachrichtenagenturen, die in der Tagespresse nicht erscheinen und agiert damit von unten. Johannes Ullmaier brachte die Provinzlesung auf den Punkt, als er die Gedichte von Dieter Roth Scheiße ohne Ende interpretierte: „Revolte, Aufstand, Revolution, was auch immer, der Kampf geht weiter.“

Marion von Zieglauer (geb. 1981) studierte in Innsbruck Kulturwissenschaften. Ihre Studie über Migrationsliteratur ist als Buch erschienen

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