Herr Kraupe ist ein freundlicher Mann. Er liebt den Mond und die Sterne, noch mehr liebt er aber sein Publikum. Also wendet er sich an die frisch gebackenen Raumfahrer, die sich noch die Milchstraße aus den Augen reiben, und sagt: „Ich fahr' Sie jetzt nach Chile.“ Chile ist das Wunderland der Astronomie. In den Hochebenen der Anden ist der Himmel nah und klar. Die Europäer, Amerikaner und Japaner haben dort riesige Observatorien errichtet, das größte ist gerade im Bau: ALMA, ein Mega-Komplex mit 66 Radioteleskopen. Mit denen kann man bis ans Ende des Universums gucken. Sagt Herr Kraupe.
Jetzt aber fliegt er uns erst einmal nach Chile. Eine Weltkugel erscheint unter dem Kuppeldach und beginnt sich zu drehen. Sie dreht und dreht sich. Eigentlich müssten wi
2;ssten wir schon in Chile sein, denkt man sich, denkt sich auch Herr Kraupe und schraubt hektisch an der Fernbedienung. Doch die Welt ist außer Kontrolle. Europa saust vorbei, Amerika, Australien, wieder Europa, als wären Außerirdische am Werk und rächten sich dafür, dass ihnen ein Winzplanet mit Fernrohren in den Garten glotzt. Am Ende war es nur die Technik. Herr Kraupe ist zerknirscht. Ein solches Malheur, ausgerechnet am Premierenabend!Denn Herr Kraupe ist mächtig stolz auf seine Shows – das kann er auch sein. Die Zeiten, in denen Planetarien bloß den Sternenhimmel an die Decke warfen, sind längst vorbei. Die Sternetheater sind inzwischen leistungsstarke Mulimedia-Tempel, die mithilfe modernster Digitalprojektoren dreidimensionale Weltraumexpeditionen simulieren können. Thomas W. Kraupe und sein Hamburger Planetarium, dem er seit 2000 als Direktor vorsteht, sind führend in Europa, was Know-how und Kreativität angeht. Ein bisschen Budenzauber bleibt da nicht aus, das Equipment kostet und braucht viele Zuschauer. Die Erfolgsformel lautet: Ernst und Entertainment. Eine Partei würde daraus den Wahlkampfslogan dichten: Bildung, die Spaß macht.Nebelschweif der MilchstraßeUnd so sitzt in der „ALMA-Planetariumsshow“ Galileo Galilei am Fenster und schaut mit seinem altertümlichen Teleskop in den Florentiner Nachthimmel. Das, was er vor vierhundert Jahren gesehen hat, erleben wir aus nächster Nähe: den Nebelschweif der Milchstraße. Die griechischen Mythologie hatte für das Phänomen eine plastische Erklärung. Herakles soll als Kind so ungestüm an der Brust seiner Stiefmutter Hera gesaugt haben, dass sie ihn zurückstieß und dabei einen Milchstrahl übers Firmament spritzte. Galileo erkannte als erster, dass sich das weiße Band aus Milliarden von Sternen zusammensetzt. In die tauchen wir ein wie an Bord der Raumpatrouille Orion. Links und rechts explodieren Sterne und wirbeln Gasnebel und formieren sich bisweilen zu Wand- und Deckengemälden, die auch von Michelangelo stammen könnten. Schon schön.Doch das symphonische Gleiten durch Raum und Zeit findet ein abruptes Ende: Es gibt einen Vorhang aus Staub, durch den wir nicht sehen können. Dahinter verbergen sich die kosmischen Ursprünge unseres Planetensystems, nicht mehr und nicht weniger. Und um sie zu sehen, brauchen wir ALMA und seine Riesenaugen. Der eine Vorhang fällt, ein neuer geht auf: Die Butterfahrt beginnt, jetzt werden Heizdecken verkauft mit dem Logo der Europäischen Südsternwarte drauf. Ruckelige 3D-Animationen der aberwitzigen Antennen verfinstern die Planetariumskuppel, Transporter, größer noch als die Schaufelbagger im Braunkohle-Tagebau, hieven die astronomischen Geräte auf ihre Plattform in 5000 Metern Höhe. Sie müssen so astronomisch teuer sein, dass die Werbetrommel immer lauter poltert. Die Promo-Offensive gipfelt zum Schluss der Vorführung in einem minutenlangen Ballett der Radioteleskope, die ihre Schüsseln im Gleichtakt Richtung Unendlichkeit recken. Erinnerungen werden wach, an Fritz Langs „Metropolis“, mehr noch an sowjetische Propagandafilme. Nur dass dort die Mähdrescher tanzten.Liveschaltung nach ChileDie Weltraumforschung hat ein Legitimationsproblem. Immer spätestens dann, wenn auf der Erde der Milchkaffee kalt wird, leuchten auf der Milchstraße die Lampen trüber. Sternenstaub allein taugt nicht für den Bau millionenschwerer Observatorien. Herr Kraupe, der leidenschaftliche Lobbyist, weiß das und zaubert einen Trumpf aus dem Hut. Das mit Chile auf der Weltkugel mag gründlich schiefgegangen sein, dafür klappt die Liveschaltung dahin ohne Probleme. Wissenschaft, noch dazu eine solch komplexe wie die Astrophysik, braucht Gesichter – das von Rainer Mauersberger ist perfekt. Er sitzt im ALMA-Kontrollzentrum vor einer Webcam und zwinkert mit seinen lustigen Augen. Er erklärt das Projekt in einfachen Worten, ein wenig wie Galilei, der seine Erkenntnisse zum Ärger der Inquisition im „Idiom der Fischweiber und Wollhändler“ (Bertolt Brecht) veröffentlichte. Das kommt an. Das Auditorium in Hamburg hängt an Mauersbergers Lippen und gluckst vor Begeisterung, als er die Kamera wendet und den Blick auf die ersten fertigen Teleskope vor dem Fenster freigibt. Werden wir hier nicht doch gerade Zeugen einer wissenschaftlichen Revolution, die alles bislang Gedachte und Geglaubte in den Schatten stellt?Herr Kraupe ist ganz aufgeregt und reibt sich die Hände. Der Abend ist reif für den finalen Schlag. Der Planetariumsdirektor hält ein Plädoyer für eine neue Wissenschaftskultur. Gerade in den Schulen müsse die Astrophysik endlich die Rolle einnehmen, die ihr zukomme. Sie sei genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger als die Literatur. Weniger Goethe also, mehr Galilei. Den lässt Brecht in seiner dramatischen Bearbeitung sagen: „Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschritt von der Menschheit weg sein.“ Das sieht Herr Kraupe naturgemäß anders. Und das nächste Mal fliegt er uns bestimmt nach Chile.