Augen auf

Einwanderung Gegen überholte Begriffe wie Multi­kulturalismus oder Integration führt Mark Terkessidis die „Interkultur“ ins Feld: Wir müssen lernen, die neue Vielheit zu gestalten

Mark Terkessidis arbeitet als Publizist mit den Schwerpunkten Popkultur und Migration. 2006 verfasste er zusammen mit Yasemin Karasoglu ein intensiv diskutiertes Plädoyer für mehr Rationalität in der Integrationsdebatte. Sein neues Buch Interkultur ist am 22. Februar 2010 erschienen. Hier ein Auszug:

Leseprobe

Es ist erstaunlich, wie viel man sich in Deutschland mit der Vergangenheit beschäftigt. Im Jahr 2009 waren die Besinnungsreden zum Thema 40 Jahre 1968 kaum verklungen, da wurde schon an 1989 erinnert, an jene Zeit, in der die Menschen auf den Straßen der DDR riefen: „Wir sind das Volk!“ Das aktuelle Volk allerdings, das sich in den Straßen der Bundesrepublik tummelt, scheint man bei solchen Anlässen kaum zur Kenntnis zu nehmen. Dabei hat es sich dramatisch verändert. In den großen Städten sind heute mehr als ein Drittel der Bewohner nichtdeutscher Herkunft; bei den unter Sechsjährigen bilden die Kinder mit Migrationshintergrund sogar schon die Mehrheit. Das Volk der Berliner Republik ist weniger einheitlich, weniger berechenbar als früher. Es ist also höchste Zeit, über die Gestaltung der Zukunft zu sprechen.

Nun kann man schwerlich behaupten, in den letzten Jahren sei nicht intensiv über das Thema Einwanderung debattiert worden. Und es hat sich auch schon viel bewegt, seitdem 1998 die rot-grüne Regierung zum ersten Mal anerkannt hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Allerdings stammen die Konzepte, die aktuell für die Gestaltung dieses Landes kursieren, einmal mehr aus der Vergangenheit. Der Begriff Integration ist nach über 30 Jahren wieder in Mode. Sehr sinnvoll ist das nicht. Denn in Deutschland verbergen sich hinter diesem Wort allerlei unausgesprochene Vorstellungen darüber, was „Deutschsein“ bedeutet, wie Leute sich bei „uns“ benehmen müssen und was sie nicht tun sollten, wer die richtigen Voraussetzungen hat und wer Defizite, für wen die Institutionen gemacht sind und wer da eigentlich nur zu Gast ist.

Nun sind die verbreiteten Ideen vom Deutschsein jedoch so altbacken, dass selbst die Einheimischen ihre Lebensweisen darin nicht mehr unterbringen können. Immer noch bringt man deutsch in Verbindung mit Organisationstalent, Ordnung, Fleiß, Zuverlässigkeit und romantischer Tiefe. Ein Streifzug durch die Hauptstadt, ein Termin mit einem Handwerker oder eine Fahrt mit der deutschen Bahn machen schnell klar, wie wenig diese Attribute heute noch mit dem wirklichen Leben zu tun haben. Seit 1989 wird fieberhaft nach neuen Ideen von Deutschsein geforscht, doch die Ergebnisse sind wenig beeindruckend. Diese Suche hat dabei etwas überaus Provinzielles. Viel fruchtbarer wäre es, die Vielheit auf den Straßen zum Ausgangspunkt zu nehmen für eine andere Idee der deutschen Bevölkerung. Das setzt aber den Willen zum Voranschreiten, zur Öffnung und zum Neuerfinden voraus. Für diesen Prozess ist der Begriff Interkultur wesentlich geeigneter. Bislang allerdings wurde Interkultur oftmals verstanden als eine Art eher praktisch orientierter Ersatzbegriff für Multikulturalismus. Es ging darum, wie man die eigene Perspektive relativiert, die Unterschiede der anderen anerkennt und wie man sich in anderen kulturellen Kontexten benimmt.

In Bezug auf die Verwaltung und andere Institutionen wird aber auch schon länger über interkulturelle Öffnung diskutiert. Tatsächlich ist der Umbau der Institutionen die entscheidende Aufgabe für die Zukunft. Durch die Einwanderung und den demographischen Wandel hat sich eine völlig neue Situation ergeben. Es wäre weltfremd zu glauben, man könne die Einwanderer ganz einfach einfügen in die bestehenden Strukturen. Staatliche oder durch staatliche Gelder finanzierte Institutionen – damit sind Ämter ebenso gemeint wie kommunale Unternehmen, Museen, Bibliotheken und Erziehungseinrichtungen – werden sich verändern müssen, um der zunehmenden Vielfalt gerecht zu werden. Dieser Wandel ist eine Überlebensaufgabe geworden.

In vielen großen Unternehmen ist das Bewusstsein für die Aufgabe unter dem Stichwort Diversity früher angekommen als in der Politik. Dabei geht es in der Politik auch um die Frage der demokratischen Legitimation. Angesichts des Wandels in der Zusammensetzung des „Volkes“ ist der rechtliche und soziale Abstand zwischen Einheimischen und Personen mit Migrationshintergrund nicht länger hinzunehmen. Das akzeptieren auch die Konservativen. Doch in ihrer Version von Integration wird dieser Abstand schlicht als ein Abstand vom wie auch immer definierten Deutschsein betrachtet, den man durch eine individuelle Anpassungsleistung überwindet. Und wer das nicht schafft, der muss eben Ausländer bleiben, der ist nicht integrationsfähig.

Im Grunde birgt der Begriff Integration stets eine negative Diagnose. Es gibt Probleme, und die werden verursacht durch die Defizite von bestimmten Personen, die wiederum bestimmten Gruppen angehören. Der Ausgangspunkt ist dabei immer die Gesellschaft, wie sie sein soll, und nicht die Gesellschaft, wie sie ist.

Die Idee von Interkultur, die in diesem Buch vorgeschlagen wird, geht von einer anderen Diagnose aus. Zu Beginn wird gefragt: Was ist Einwanderungsgesellschaft? Wo spielt sie sich ab? Wie funktioniert sie und was trägt sie an positiven Kräften in sich, die weiterentwickelt werden können? Dann wird der Versuch unternommen, besagten Abstand als ein spezifisches und strukturelles Ungleichheitsverhältnis zu verstehen, für das ohne moralische Implikationen der Begriff Rassismus verwendet wird. So ergeben sich andere Handlungsoptionen. Das Ziel ist eine Evolution der Institutionen im Hinblick auf die neue Vielfalt der Gesellschaft. Dafür müssen vor allem strukturelle Hürden für die Individuen beseitigt werden – zumeist unsichtbare, unausgesprochene und unbemerkte Hindernisse. Die technische Statusbeschreibung für solche Hürden ist Diskriminierung. Und das technische Ziel heißt Barrierefreiheit. Dieser letzte Begriff wird zumeist in Bezug auf Menschen mit Behinderungen verwendet, doch er lässt sich verallgemeinern. Es geht tatsächlich, aber eben auch im übertragenen Sinne darum, ein Gebäude so umzubauen, dass es nicht nur für die „Normalen“ gut funktioniert, die von vornherein die richtigen Voraussetzungen mitbringen, sondern für alle Bewohner oder Benutzer...

Interkultur als Organisationsprinzip

Das Programm einer Politik, die Barrierefreiheit herstellen will, möchte ich als Interkultur bezeichnen. Ich habe diesen Begriff gewählt, weil Interkultur in der deutschen Debatte bereits eingeführt ist und ein wenig als der Kontrahent der schlecht-normativen Vorstellungen von Integration fungiert – vor allem im Begriff der „interkulturellen Öffnung“. Die Ideen und Maßnahmen setzen eher an den tatsächlichen Verhältnissen an, die Perspektive ist pragmatisch und als Bezugspunkt dienen dabei die Institutionen. Insofern hat der Begriff Kultur in meinem Verständnis von Interkultur vor allem mit der Frage nach den Prinzipien der Organisation zu tun und keineswegs vorrangig mit ethnischen Gemeinschaften oder kultureller Identität wie in den Theorien des Multikulturalismus.

In seinem Buch The Long Revolution hat Raymond Williams versucht, Kultur als „gesamte Lebensweise“ zu erfassen und durch die Analyse eines Geflechtes zu interpretieren, das die gesellschaftliche Praxis, also die ökonomischen und rechtlichen Lebensbedingungen, in Beziehung setzt mit den in einer Gesellschaft verbreiteten Sitten und Gebräuchen. Die jeweiligen Praktiken sind also weder schlicht das Ergebnis sozialer Ungleichheit oder Traditionen, sondern immer nur zu begreifen, wenn man den ganzen Beziehungskomplex betrachtet. Kultur im Sinne von Raymond Williams bezeichnet also die grundsätzlichen Prinzipien der Organisation in diesem Feld; Prinzipien, die sich in allen Praktiken wiederfinden lassen. In meinem Verständnis von Interkultur geht es also nicht wie im Multikulturalismus um die Anerkennung von kulturellen Identitäten, die Relativität unterschiedlicher Perspektiven oder das Zusammenleben der Kulturen, sondern das Ziel ist die Veränderung der charakteristischen Muster, die aktuell mit der Vielheit eben nicht mehr übereinstimmen.

Die Frage ist, wo man ansetzt, um diese Muster zu verändern. Ich würde als Ausgangspunkt die Institutionen vorschlagen, denn diese Institutionen können durch Politik und entsprechende Maßnahmen tatsächlich beeinflusst werden. In Deutschland wird oftmals versucht, die Bekämpfung von Diskriminierung oder den Dialog zwischen den Kulturen durch eine Veränderung des Bewusstseins zu erreichen – nach dem Motto: Jeder sollte zunächst bei sich selbst anfangen. Doch es ist schlicht unmöglich, jeden Einzelnen aufzuklären, und entsprechende Kampagnen verlaufen zumeist im Sand. Es gibt dabei nämlich weder echte Anreize zur Veränderung noch wird ein entsprechender Druck aufgebaut. Nur durch einen bewusst eingeleiteten Wandel in den Institutionen lassen sich die besagten Muster in Bewegung bringen. Daher möchte ich Interkultur auch verstehen als „Kultur-im-Zwischen“, als Struktur im Wandel, als etwas, das nicht ganz ist oder noch nicht – ein „Werden“ im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari.

Auch in Großbritannien gilt Interculturalism unterdessen als eine Alternative zum Multikulturalismus. Im Projekt „Intercultural Cities“ etwa, in dem Empfehlungen für die Gestaltung urbaner Vielfalt entwickelt werden, arbeitet man mit folgender Definition: „Der interkulturelle Ansatz geht über Chancengleichheit und Respekt für existierende kulturelle Unterschiede hinaus, hin zu einer pluralistischen Transformation des öffentlichen Raumes, der zivilen Kultur und der Institutionen. Kulturelle Grenzen werden daher nicht als fix betrachtet, sondern als fließend und sich ständig erneuernd. […] Vertreter dieses Ansatzes sagen, dass die Städte Förderstrategien entwickeln müssen, die Projekte bevorzugen, in denen unterschiedliche Kulturen sich überschneiden, sich ‚anstecken’ und hybridisieren.“ Ähnliche Gedanken findet man in dem im Jahr 2008 aufgelegten Programm „Intercultural Cities“ der Europäischen Kommission, das die Entscheidungsträger auffordert, gegenüber der zunehmenden Vielfalt in Europa eine proaktive Haltung einzunehmen. Dieses Projekt lehnt sich stark an Konzepte an, die seit über 15 Jahren unter dem Stichwort Managing Diversity diskutiert und umgesetzt werden. Zudem überträgt die EU-Kommission darin die Prinzipien des Gender Mainstreaming auch auf den Bereich der Migration.

Im Grunde geht es also gar nicht darum, unter dem Begriff Interkultur das Rad neu zu erfinden. Schon heute existieren viele gute Vorschläge, Konzepte und Praktiken, und im Folgenden werde ich versuchen, diese aufzunehmen, zusammen- und weiterzudenken. Das Ziel ist ein konzeptionelles Gerüst im Hinblick auf die Veränderung von Institutionen und Politiken. Es geht dabei nicht darum, Minderheiten in bestehende Institutionen einzugliedern oder einfach neue Politiken zu den bestehenden hinzuzuaddieren. Es gilt vielmehr, den Kern der Institutionen zu befragen, sie daraufhin abzuklopfen, ob die Räume, die Leitideen, die Regeln, die Routinen, die Führungsstile, die Ressourcenverteilungen sowie die Kommunikation nach außen im Hinblick auf die Vielheit gerecht und effektiv sind. Die Vielheit ist eine Tatsache; warum also sollte man nicht versuchen, aus der Vielheit das Beste zu machen, sie als Quelle der Erneuerung zu nutzen.

Nun ist schon seit Beginn der neunziger Jahre in Deutschland viel die Rede von interkultureller Kommunikation, Lernfähigkeit, Pädagogik, Kompetenz, Öffnung, Orientierung, Entwicklung. Die Literaturproduktion war und ist enorm. Im Bereich der sozialen Dienste und der öffentlichen Verwaltung sind interkulturelle Kompetenz und Öffnung heute vielerorts Leitvorstellungen. Auch in den global operierenden Unternehmen hat das Thema seit geraumer Zeit Konjunktur; jüngst hat es noch einmal einen regelrechten Boom in Sachen Diversity gegeben. Allerdings sind nicht alle unter dem Begriff verhandelten Ansätze gleich gut, und es hapert – wie so oft – an der Umsetzung.

Zudem muss man darauf hinweisen, dass Konzepte wie interkulturelle Kompetenz oder Kommunikation und Diversity in Deutschland zum Teil auf haarsträubende Weise infiziert sind mit traditionellen Denkweisen, mit naiven Versionen von „Multikulti“. Nehmen wir zum Beispiel einen Ratgeber zum Thema „Interkulturelle Kompetenz in Kommunen“, herausgegeben von der einflussreichen Beratungsfirma Internationale Weiterbildung und Entwicklung (inWEnt) und versehen mit Grußworten von Maria Böhmer und Armin Laschet. In dieser Broschüre kann von den gleich in der Einleitung beschworenen neuen interkulturellen Sichtweisen keine Rede sein. Zum einen richten sich die Ratschläge mit ungeheurer Selbstverständlichkeit an einheimische Mitarbeiter der kommunalen Verwaltung – es sind „Frau Neumann“ und „Herr Schlegel“, die es für „interkulturelle Begegnungen“zu rüsten gilt.

Zweitens geht es um tatsächliche kulturelle Unterschiede, also um Themen wie Zeitwahrnehmung, das Verständnis von Macht oder Ideen vom Individuum – der soziale Kontext oder die Folgen von Diskriminierung bleiben völlig außen vor. Schließlich wird, drittens, zwar ausdrücklich vor Klischees gewarnt, doch letztlich werden sie ungebrochen reproduziert, wenn die Autoren zum Beispiel Personen aus „arabischen und afrikanischen Kulturkreisen“ ein „polychrones“ Zeitempfinden attestieren, was im Klartext bedeutet, dass sie ständig zu spät kommen. Frau Neumann und Herr Schlegel haben in den begleitenden Beispielgeschichten ihre Probleme mit Familie Mohamed und Familie Yilmaz, die Termine nicht einhalten und penetrant mit dem ganzen Clan anrücken. Gefühlt stammen solche Geschichten aus dem Jahr 1974, und beim Lesen fragt man sich unwillkürlich, warum Neumann und Schlegel seitdem nichts gelernt haben. Ob sich die Mitarbeiter von Kommunen wirklich mit diesen Personen identifizieren mögen?

Tatsächlich wird interkulturelle Öffnung oft als eine Art Training für einheimische Mitarbeiter von Einrichtungen verstanden, die mit Personen mit Migrationshintergrund in Kontakt kommen und deshalb angeblich mit Menschen unterschiedlicher „kultureller Prägung“ umgehen können müssen. Tatsächlich findet man in der Literatur nur wenige Beispiele, in denen von Kompetenztrainings für Mitarbeiter türkischer Herkunft zum ruhigen Umgang mit der überheblichen Art deutscher Mittelschichtsangehöriger die Rede ist. Zwar wird häufig betont, der Kulturbegriff in „interkulturell“ besitze eine dynamische Qualität und solle keineswegs ethnisierend wirken. Doch zum einen ist oftmals von Anerkennung die Rede, was ja zwangsläufig bedeutet, dass gewisse Unterschiede als fix gelten bzw. nicht angetastet werden sollen. Zum anderen geht es stets um die Kultur der anderen; die Kultur der Institution selbst, ihre impliziten Ein- und Ausschlussmechanismen stehen selten zur Disposition. Häufig bieten solche Ratgeber also schlicht ethnologisches Rezeptwissen.

Wenn es Trainings geben soll zur Ausbildung von so etwas wie interkultureller Kompetenz, dann müssen die entsprechenden Trainingsmaßnahmen ausreichend reflektiert sein. Das Personal öffentlicher Einrichtungen etwa lebt vielfach selbst in einer unvermischten, einheimischen Parallelgesellschaft und hat außerhalb des beruflichen Alltags kaum Differenz auszuhalten. Wenn etwa der Lehrer einer Hauptschule seinen Schülern etwas von Toleranz erzählt, dann wirkt das abstrakt. Denn er muss Unterschiede nur im Job und als Autoritätsperson aushalten, während seine Schüler sich angesichts der vielfältigen Zusammensetzung der Klassen ununterbrochen horizontal in Toleranz üben. Tatsächlich könnte das Lehrpersonal etwas von den Schülern lernen. Außerdem sollten die Trainings auch die Positionen und Wissensbestände des betreffenden Personals in den Fokus rücken. Im Grunde geht es zunächst gar nicht darum, etwas über die anderen zu lernen, es geht vielmehr darum, etwas zu verlernen oder bewusst zu „entlernen“ – nämlich die eigenen Bestände an „rassistischem Wissen“ oder die eigenen „kulturellen Kurzschlüsse“. Es sollte deutlich werden, dass die eigene Position gegenüber den anderen keineswegs objektiv ist.

Diversity wird oft falsch verstanden

Schließlich existiert eine Schieflage bezüglich der Institutionen, die sich überhaupt mit dem Thema Interkultur befassen – interkulturelle Öffnung und Kompetenz scheinen gewöhnlich nur die sozialen Dienste wie Sozialstationen oder ambulante Kranken- oder Altenpflege, die Verwaltung und die Polizei zu benötigen. Diese Verengung lässt Interkultur als ein Schmiermittel zur Sozialkontrolle erscheinen, und nicht als Werkzeug zur Durchsetzung von Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Zweifellos wird der Prozess der interkulturellen Öffnung angesichts demographischer Veränderungen auch auf Museen und Theater zukommen – darauf werde ich im nächsten Kapitel eingehen.

Auch der Begriff Diversity kann traditionelle Vorstellungen transportieren. So hat der „Zukunftsforscher“ Matthias Horx zu Beginn des neuen Jahrtausends gefragt, ob es in der gegenwärtigen Gesellschaft noch einen „Mega-Mega-Trend“ gebe, „der alle anderen sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Trends in einer Art Meta-Prinzip zusammenfasst“. Er glaubte diesen übergeordneten Trend in der Diversity gefunden zu haben. Früher habe die Wirtschaft den älteren weißen Männern gehört, so Horx, nun aber sei die „Vielfalt, die Multikulturalität der Firmenkulturen“ im globalen Konkurrenzkampf „gefechtsentscheidend“ geworden. „Am produktivsten“, schrieb er, seien „Diversity-Ansätze gerade dann, wenn sie die Unterschiedlichkeit der Teilnehmer am Diskurs wahren, ja sogar anspornen. Das geht bis hin zu einer allgemeinen Akzeptanz von Klischees. Der Kollege aus dem Fernen Osten muss seine ‚typisch asiatische Sichtweise’ äußern können. Frauen sollen einen ‚typisch weiblichen Zugang’ zu dem Problem erarbeiten – gerade bei technischen Entwicklungen.“

Angesichts solcher Prognosen war zumindest teilweise absehbar, wie der „Mega-Trend“ sich in Deutschland niederschlagen würde. Wie viele deutsche Unternehmen trägt auch die Deutsche Telekom das Banner der Diversity vor sich her. Auf der Homepage finden sich die üblichen Schlagworte, wobei man allerdings in Bezug auf den Migrationshintergrund vergeblich nach konkreten Maßnahmen sucht. Im Rahmen einer Selbstdarstellung in einer Broschüre der Bertelsmann-Stiftung weist das Unternehmen dann darauf hin, es biete in „ausgewählten Telekom-Shops“ in Berlin und Köln mehrsprachige Beratung an. Allerdings ergibt sich das in Großstädten angesichts der Zusammensetzung der Mitarbeiter im Prinzip von selbst. Zudem erwähnt die zuständige Mitarbeiterin eine „Ethno-Fibel“, die Beschäftigten in überraschenden oder befremdlich wirkenden Situationen Hilfestellungen bieten soll.

Die Diversity-Beauftragte der Telekom war so freundlich, mir die „Fibel“ aus dem Jahre 2004 zukommen zu lassen. Es handelte sich um zwei DIN-A4-Blätter, spärlich beschrieben, erstellt von einer regionalen Abteilung. Dort fanden sich Hinweise wie: „Geben Sie arabischen Frauen zur Begrüssung bitte nicht die Hand. Aus religiösen und moralischen Gründen dürfen sie fremde Männer nicht berühren, auch der Blickkontakt sollte nicht gesucht werden.“ In Bezug auf „Asiaten“ empfiehlt die Handreichung: „Kinder sollten nicht am Kopf getätschelt werden, da dem Glauben nach dort die Seele ruht.“ Es gehört schon ziemlich viel Unverschämtheit dazu, eine solche „Fibel“ in einer Selbstdarstellung zum Thema Diversity zu promoten.

In deutschen Unternehmen ist Diversity also in den letzten Jahren zu einem relevanten Thema avanciert, ohne dass damit etwas über die Qualität der Maßnahmen gesagt wäre. Um die Bemühungen um Diversity in Deutschland weiter voranzutreiben, hat Maria Böhmer, die Integrationsbeauftragte des Bundes, Ende 2006 die sogenannte Charta der Vielfalt für Unternehmen und öffentliche Einrichtungen auf den Weg gebracht. Nach einem Jahr vermeldete die Beauftragte, inzwischen gebe es 500 Unterzeichner – damit würden nun vier Millionen Beschäftigte erreicht. Aber was heißt hier „erreicht“? Ein Blick auf die Charta zeigt, dass darin keine nachprüfbaren Ziele formuliert werden. „Die Umsetzung der ‚Charta der Vielfalt’“, heißt es dort nur pauschal, „hat zum Ziel, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das frei von Vorurteilen ist.“

Was nun als „Vorurteil“ betrachtet wird, bleibt jedoch dahingestellt. Wenn in einem Unternehmen eine homogene Schicht einheimischer, heterosexueller Männer aus der Mittel- und Oberschicht die Entscheidungen treffen und die Unternehmenskultur entsprechend gefärbt ist – wie sollen dann „Vorurteile“ als solche erkannt werden? Ähnlich uneindeutig sind andere Formulierungen in der Charta. So erklären die unterzeichnenden Einrichtungen, „eine Unternehmenskultur pflegen [zu wollen], die von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung jedes Einzelnen geprägt ist. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass Vorgesetzte wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diese Werte erkennen, teilen und leben. Dabei kommt den Führungskräften bzw. Vorgesetzten eine besondere Verpflichtung zu.“ Was das für Voraussetzungen sind, und welche Maßnahmen ergriffen werden sollen, um diese tatsächlich zu realisieren – darüber erfährt der Leser hier freilich nichts.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Interkultur Mark Terkessidis Edition Suhrkamp, 220 Seiten, 13

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