Wenn rückblickend vom Jahr 1914 die Rede ist, dann geht es immer um das seltsame Phänomen der Kriegsbegeisterung. Angeblich haben sich die Deutschen zu Beginn des Ersten Weltkrieges über alle Grenzen von Klasse, Religion und Ideologie hinweg in einen gemeinsamen nationalen Rausch gestürzt. Allerdings ist diese Version der Geschehnisse von 1914 in den vergangenen Jahren ins Wanken gekommen - vor allem durch Untersuchungen über die Stimmung in einzelnen Städten. Nun sind zwei Bücher erschienen, die jeweils auf ihre Weise in einer gesamtdeutschen Perspektive die Weltkriegsbegeisterung als Mythos entlarven wollen. Der emeritierte Philosophieprofessor und Mittelalterexperte Kurt Flasch befasst sich dabei mit den Kriegsreden und -essays der deutschen Philosophe
phen. Er widerlegt die immer noch herrschende Ansicht, diese Denker seien vom ungebrochenen Chauvinismus damals einfach mitgerissen worden. Im Gegenteil, behauptet Flasch: Die Philosophen hätten in einer Art »geistigen Mobilmachung« den Nationalismus erst hergestellt. Jeffrey Verhey, zur Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Ebert-Stiftung in Bonn, hat seine Untersuchung über den Geist von 1914 breiter angelegt. Er zieht in erster Linie Zeitungsberichte aus jener Zeit heran, um zu zeigen, dass in der öffentlichen Meinung von einer allgemeinen Begeisterung keine Rede sein konnte. Tatsächlich hätten die Regierung und die bürgerlich-konservative Publizistik durch die Beschwörung des Geistes von 1914 einen Mythos im Dienste der nationalen Mobilisierung geschaffen. Und schon durch die Zensur seien alle anderen Versionen ganz einfach unterdrückt worden.Obwohl beide Bücher sich mit dem Weltkriegsdiskurs beschäftigen, könnten sie in Aufbau und Herangehensweise kaum unterschiedlicher sein. Verhey nimmt systematisch und chronologisch die vorgebliche Begeisterung auseinander: Er vergleicht Darstellungen von Massenaufläufen, beschreibt geduldig die Linien der Propaganda und forscht nach vergessenen Gegenstimmen. Kurt Flaschs Buch dagegen liest sich wie eine Vorstudie zu einer kommenden Untersuchung - eine Mischung aus Einzelfallanalysen, methodischen Überlegungen und unfertig wirkenden Ordnungsversuchen.Der Bochumer Emeritus versteht sein Werk als Beitrag zur hiesigen Philosophiegeschichte. Denn in den gängigen Darstellungen tauche der Weltkrieg einfach nicht auf, beklagt Flasch. In diesem Sinne werden Reden und Texte von Rudolf Eucken, Ernst Troeltsch oder Max Scheler speziell darauf befragt, wie sie »den Krieg denken«. Flasch kann zeigen, wie sich trotz der Individualität der Autoren bestimmte Topoi und Elemente durch alle diese Quellen hindurchziehen. Die Philosophen betonten den außergewöhnlichen Erlebnischarakter des Krieges, »bewiesen« die Gerechtigkeit der deutschen Sache und erteilten dem Pazifismus eine deutliche Absage. Zudem interpretierten sie aus philosophischer Überzeugung politische Vorgänge ausschließlich als Gesinnungen: Kapitalismus, Demokratie, Militarismus, Krieg - das alles schienen eigentlich nur Ideen zu sein. Und je weiter sich die Philosophen in eine Metaphysik des Krieges hineinsteigerten, so Flasch, desto weniger scherten sie sich um intellektuelle Redlichkeit oder reale Menschenopfer. Zu einer konkreten politischen Analyse seien sie deswegen fast durchweg nicht in der Lage gewesen, stellt der Bochumer Wissenschaftler fest.Freilich könnte man auch Flasch selbst diese Vernachlässigung konkreter politischer Analyse vorwerfen. Denn indem er die Texte nur auf ihren philosophischen Gehalt hin liest, bleibt als Fazit wenig mehr als die wiederholte Bemerkung, die Texte seien »historisch fremd«. Sicher weist Flasch darauf hin, dass die Philosophen sich freiwillig und bewusst in den Dienst der »geistigen Mobil machung« stellten. Doch am Ende scheint er sich verwundert die Augen zu reiben. Gab es vielleicht doch eine tiefere Verbindung zwischen den damals gängigen philosophischen Richtungen und der Kriegsbejahung, fragt er sich. Darauf hätte man allerdings eine Antwort erwartet. Sein Buch steckt voller feiner Beobachtungen, doch leider fehlt ihm jeder Wille, Zusammenhänge herzustellen und Schlussfolgerungen zu ziehen.Verhey dagegen ist weitaus kompakter - und das trotz der weit größeren Materialmengen. Er hat eine klare These: Die Kriegsbegeisterung, der vielbeschworene »Geist von 1914«, war ein Mythos. Dieser Mythos hatte zwei Funktionen: Er sollte die Nation zusammenschweißen und den Glauben des Volkes im Kampfe stärken. Zunächst befasst sich Verhey ausführlich mit den vermeintlich kriegsbegeisterten Massen des Sommers von 1914. Dabei kann er überzeugend nachweisen, dass die Teilnehmer an den fahnenschwenkenden Umzügen hauptsächlich aus gebildeteren Kreisen kamen - Arbeiter waren kaum darunter. Oftmals handelte es sich um Jugendliche, deren Motive Verhey als »karnevalesk« beschreibt - sie freuten sich, straflos Radau machen zu dürfen. Die meisten Menschenaufläufe kamen jedoch einfach aus Neugier zusammen - aus einem eher angst erfüllten Interesse an Information. Zudem sind die gutbesuchten Antikriegsdemonstrationen der Sozialdemokraten heute weithin vergessen. Eine übergreifende Begeisterung kam erst nach den ersten Siegen auf; aber selbst die lässt sich mit Fug und Recht auch als Ausbruch von Erleichterung interpretieren.Dennoch feierten Regierung und bürgerlich-konservative Kräfte die angebliche Begeisterung als Ausdruck einer Verschmelzung des Volkes zu einer Einheit. Zweifelsohne nahmen sich die unterschiedlichen Teile der Bevölkerung angesichts des Krieges wohl oder übel als »Schicksalsgemeinschaft« wahr. Doch von einer Transformation kann keine Rede sein, meint Verhey. Tatsächlich wurde die Einheit während des Krieges von oben verordnet. Die Zensoren verboten zu Beginn des Krieges nicht nur Kritik am Krieg, sondern auch alle antisozialdemokratischen, antikatholischen und antisemitischen Organisationen. Die Unterstützung des Krieges durch diese Gruppen war daher vor allen Dingen mit der Hoffnung auf bessere Integration verbunden.Auch Flasch erwähnt ausführlich katholische und jüdische Denker. Allerdings bleiben bei ihm die sehr spezifischen Gründe im Dunkeln, die auch solche Intellektuellen den »Geist von 1914« beschwören ließen. Erst das außerordentlich erhellende Buch von Verhey verdeutlicht, wie sich in der Vorstellung der Nation die unterschiedlichsten politischen Hoffnungen bündelten. Zudem stellt er den Zusammenhang zur Nachkriegsperiode her. Denn als die gesellschaftlichen Unterschiede spätestens 1918 mit aller Gewalt wieder hervorbrachen, transformierte sich die mythische Erzählung des »Geistes von 1914« in jene von der »Volksgemeinschaft«. Und bekanntlich war diesem Mythos im Sinne der nationalen Einheit ein entsetzlicher Erfolg vergönnt.Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung - Die Intellektuellen und der erste Weltkrieg. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000, 450 S., 68.- DM.Jeffrey Verhey: Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Verlag Hamburger Edition, Hamburg 2000, 416 S. 58,- DM.