In Abteile getrennte Welt

DIE GEWALT DER GRÜNDUNG Dale Pecks exzellenter Roman über den Rassismus in einer amerikanischen Kleinstadt "Schwarz und Weiß" ist eine Parabel auf die Gesellschaft der USA

Mein neuer Roman greift das Detektivgenre auf - oder eigentlich die Hollywoodversion der Detektivgeschichte - und versucht es aufzublasen, aber nur um es wieder neu zu erfinden, um ihm wieder Wirklichkeit einzuhauchen. Es ist ein Thriller, in dem es um einen schwarzen Albino ohne Daumen geht, der ein schwules weißes Paar mit pädophilen Tendenzen in den Verdacht geraten läßt, in einer kleinen, "rassisch" gemischten Stadt in Kansas eine 17jährige ermordet zu haben." Diese Zusammenfassung gab Dale Peck dem Boston Phoenix bereits vor fast vier Jahren, kurz vor Erscheinen seines letzten Buches Das Gesetz der Nähe. Dieser neue Roman, meinte Peck weiter, werde ein Angriff auf die Form der Erzählung selbst werden. Aber ein Angriff aus Zuneigung: "I love the Narrative but we have to find a new way to do it."

Seit Now It´s Time to Say Goodbye, das auf Deutsch leider den an Plattheit kaum noch zu unterbietenden Titel Schwarz und Weiß trägt, in den USA erschienen ist, tobt dort ein Streit darüber, ob Dale Peck mit seinem neuesten Werk nun gescheitert ist oder nicht. Viele Kritiker, die den so extrem früh gereiften Autor bislang für eine der größten Hoffnungen der zeitgenössischen Literatur gehalten hatten, zeigten sich enttäuscht. Zuviel Ambition, zuviel Worte, zuviel Postmoderne, zuviel Political Correctness - Dale Peck sei ja nicht der erste brillante Autor, der ein "Monster" kreiert habe, schrieb der Rezensent der New York Times. Andere wiederum behaupteten, Peck sei genau das Buch gelungen, das Toni Morrisons neuer Roman "Paradise" hätte sein sollen. Tatsächlich geht es auch bei Morrison um einen kleinen, gegenüber der Welt abgeschlossenen Phantasieort irgendwo auf dem Land.

Zweifelsohne hat Peck auf 570 Seiten ein Monster geschaffen, aber es ist ein absolut grandioses Monster. Es ist das beste Buch, das ich seit Jahr und Tag gelesen habe. Der Roman funktioniert ein wenig wie die von David E. Kelley geschaffene Serie Picket Fences: Das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt, jenem vermeintlichen Refugium vor den Unbilden der bösen Welt, dient als symbolischer Exerzierplatz gesellschaftlicher Beziehungen. In diesem Sinne beginnt der Roman mit einer Flucht: Der Schriftsteller Colin Nieman und sein Freund Justin Time (ein ehemaliger Stricher) ziehen in den Ort Galatea, weil Colin geschworen hat, New York zu verlassen, wenn der 500ste ihrer Bekannten an Aids gestorben ist. Doch gerade in der Kleinstadt geschehen schließlich die ungeheuerlichsten Dinge. Das Überzeugende sowohl an Picket Fences als auch an Pecks Roman ist die Konsequenz, mit der die Handlung auf der Ebene des Alltags verbleibt. Die politische Dimension wird den Dialogen nicht von außen injiziert - wie so oft bei ähnlichen Versuchen hierzulande - sondern sie entsteht strikt in der Interaktion der Personen.

Tatsächlich ist der Ort das eigentliche Subjekt des Romans: Bereits in den ersten Zeilen läßt Peck Justin feststellen, "dass die Geschichte, die sie nun lesen werden, die Geschichte eines Ortes ist, nicht die einer Person." Dieses Subjekt allerdings ist gespalten, die Stadt ist eine, wie Frantz Fanon es einmal für die Kolonialgesellschaft ausgedrückt hat, "in Abteile getrennte Welt". Auf der einen Seite gibt es Galatia, die ursprünglich von Afroamerikanern bewohnte Siedlung, auf der anderen Galatea, eine spätere Neugründung von Weißen unter der Führung einer resoluten Immobilienmaklerin namens Rosemary Krebs. Zwei Ereignisse formieren das Unbewusste des seltsamen Doppelortes. Zum einen wirbelt am Horizont immer noch der Staub von Kenosha herum - jener Ortschaft, deren Brand überhaupt erst zur Gründung von Galatea führte. Zum anderen lebt unter den Bewohnern wie ein Geist der verschwundene Albino Eric Johnson. Der schwarze Junge, den weder die Schwarzen noch die Weißen als ihresgleichen anerkannten, wurde gelyncht: Man hängte ihn an den Daumen auf, weil eine 17jährige ihn der Belästigung beschuldigte.

Das Thema der Spaltung zieht sich durch den gesamten Roman. Doch während gewissermaßen der Ort selbst versucht, die Trennung zwischen Galatia und Galatea aufrecht zu erhalten, läßt Peck die einzelnen Personen aus ihrer subjektiven Sicht zumeist über schwarzweiße Begegnungen erzählen. Der weiße Künstler Wade Painter lebt mit einem schwarzen Stricher namens Divine zusammen - die beiden bilden das Pendant zu Colin und Justin. Divine wiederum sehnt sich nach seinem weißen "Mann" Ratboy, der eines Tages verschwand. Offenkundig geschah dies bei der Arbeit, denn Ratboy, der "Schwuchtelliebhaber", verkaufte sich ausgerechnet als Stricher, um für Divine und sich das Geld zum Fortgehen zusammenzubekommen - eine weitere verquere Episode. Erics Tante Cora führt zusammen mit ihrer weißen Liebhaberin Rosa ein Café. Und schließlich ist da Webbie Greeving, Tochter von Galatias geistlichem Führer, die einen Job bei Rosemary Krebs annimmt, um sich auf die Suche zu begeben nach dem Verdrängten.

Im Zentrum dieser Verdrängung befindet sich die Gewalt der Gründung: Das Subjekt basiert auf Zerstörung und Verbannung. Selbst in der in Abteile getrennten Welt ist durchaus noch Annäherung möglich zwischen Schwarz und Weiß, vielleicht sogar Vermischung. Doch das absolut Unmögliche ist offenbar ein zutiefst häßliches Geschöpf, das weder das eine noch das andere ist - das selbst in einer Welt der "hybriden" Überschreitungen, die in diesem Roman ja geschildert werden, noch immer das Unerträgliche darstellt. Der Albino, ein Unfall, der entfernt werden mußte.

Selbstverständlich ist dieser Roman eine unangenehme Parabel über die Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie wird erzählt im Stile eines derangierten William Faulkner oder einer verwirrten Carson McCullers - ohne auktoriale Perspektive und ohne einheitliche Zeit. Zudem stellt sich die Geschichte ununterbrochen selbst die Frage, wie sie überhaupt erzählt werden kann und welche Rolle die Personen darin spielen. Am Ende treffen sich Colin Nieman, der Auslöser der Handlung, und Eric Johnson, das Unbewußte des Ortes. Johnson, der sich nun Noman Never nennt, will seine, die Geschichte erzählen, doch Nieman besteht darauf, dass eigentlich die Geschichte ihn erzählt. Das ist, wenn man so will, das "strukturalistische" Ende. Doch es gibt noch ein anderes Ende, Cora Johnsons Ende. Sie verläßt mit ihrem Sohn die Stadt und damit die Erzählung. "Wir werden uns von diesem Land befreien", lauten ihre letzten Worte, "Und schließlich werden wir ganz frei sein."

Dale Peck: Schwarz und Weiß. Roman. Aus dem Amerikanischen von Klaus Pemsel. Luchterhand-Literatur-Verlag, München 1999, 570 S., 49,80 DM

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