Vor einiger Zeit berichtete mir ein Arbeitgeber tief im Westen über seine Probleme mit der aktuellen Arbeitnehmerschaft. Die Qualifikationen seien nicht ausreichend, und mit der Motivation stimme es auch öfter nicht. Aber nein, betonte er, das habe mit Migrationshintergrund nicht das Geringste zu tun. Nur eine Gruppe würde er nicht mehr einstellen – „Ossis“. Die seien total langsam und hätten zugleich enorme Ansprüche.
Nun ist es gerade 20 Jahre her seit dem offiziellen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, und soeben debattiert die Republik heftig über das Thema Integration. Allerdings nicht darüber, ob die Integration von West und Ost gelungen ist, sondern über die Probleme der Unterschicht mit türkischem oder arabischem Hintergrund. Die Situation ist ziemlich paradox. In Sachen Ost-West gab es in einer recht kurzen Zeitspanne durchaus erhebliche Bemühungen zur Angleichung der Lebensverhältnisse.
In den Sonntagsreden zum Thema wird zumeist ein rosiges Bild gemalt, wobei die alltägliche Realität oft anders aussieht. In Sachen Migration dagegen gab es während eines vergleichsweise langen Zeitraums nur halbgare Anstrengungen, weil sich die Bundesrepublik bis 1998 im Provisorium der „Gastarbeit“ eingerichtet hatte. Die Debatten über das Thema konzentrieren sich eher auf die negativen Aspekte, aber das alltägliche Zusammenleben funktioniert oft ganz kommod. Wie kommt es zu diesen seltsamen Überschneidungen?
Für die ehedem kommunistischen Staaten Ost- und Südosteuropas gab es nach dem Fall der Mauer den Begriff des „country in transition“, des Landes im Übergang. Auf Deutschland allerdings wurde diese Bezeichnung kaum angewandt. Hierzulande schien der Übergang 1989 nicht zu beginnen, sondern gerade beendet worden zu sein. „Transit“, das war das Namensanhängsel des Verkehrs zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin, also der Begriff für einen falschen, quasi unnatürlichen Status, dessen Stunde geschlagen hatte, als die DDR, das Land in Anführungsstrichen, sich der Bundesrepublik anschloss. So schien die Frage der „Integration“ von West und Ost sich gar nicht zu stellen, denn es wuchs ja nur zusammen, was zusammengehört. Was sollte man also diskutieren? Das Ganze war offenbar nur eine Angelegenheit der ökonomischen Entwicklung im Westen. Eine ehrliche Debatte über den Stand und die Folgen der Vereinigung blieb aus. So übersetzte sich Unzufriedenheit vielfach in Schweigen und Rückzug, in Gemecker und Ressentiment.
Sündenbock: Asylbewerber
Im Grund war bereits zu Beginn der neunziger Jahre evident, dass die Einheit mehr versprochen als gehalten hatte. Nach den euphorischen Tagen von Maueröffnung, Währungseinheit und dem Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft stellte sich der große Kater ein. Eine Zeit lang sah es so aus, als sollte die in der Nationalhymne beschworene „Einigkeit“ durch Rassismus geschmiedet werden – die Chiffren lauten Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen. Es schien, als würde wie aus dem Lehrbuch ein „Sündenbock“ konstruiert, als müssten die Kosten der Einheit nun von den Asylbewerbern und den Einwanderern gezahlt werden.
Zwar hatten diese Ereignisse weniger mit der „Wende“ zu tun, sondern mit den Widersprüchen in der Einwanderungspolitik der alten Bundesrepublik. Aber das wurde anders gesehen. Als die Ethnologin Nevim Cil türkische Einwanderer nach ihren Erfahrungen fragte, da zeigte sich, dass viele die Wiedervereinigung als Rückschlag betrachten – als eine Zeit, in plötzlich ein gewalttätiger Rassismus an der Tagesordnung war und in der viele ihren Job verloren, zumal in Berlin, was mit den neuen „Einwanderern“ aus Ostdeutschland in Verbindung gebracht wurde.
Mit einem Mal schien der bereits erreichte Stand der „Integration“ wieder in Frage zu stehen. Dabei hatte Wolfgang Schäuble 1990 als Innenminister im neuen Ausländergesetz eine ganze Reihe von pragmatischen Veränderungen durchgesetzt – etwa einen Anspruch auf Einbürgerung unter bestimmen Auflagen. Das war die Anerkennung des Ansiedlungsprozesses, doch die Ereignisse der frühen neunziger Jahre sorgten dafür, dass nur wenige von den Möglichkeiten der liberaleren Regelungen Gebrauch machten. Für die Einwanderungsgesellschaft war die Regierung Helmut Kohl nach der „Wende“ eine Phase der Stagnation. Erst 2000, also zehn Jahre später, gab es mit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts einen neuen Schub, dessen Konsequenzen immer noch nachwirken.
Deutsche Häme
Einen gewissen Stillstand gab es auch im Bereich der kulturellen Entwicklung. Während sich viele in den achtziger Jahren unter dem Stichwort „Multikulti“ durchaus naiv für die Idee der Vielfalt interessierten, für Vermischung und Werden, begab man sich nach 1989 auf eine fruchtlose Suche nach dem Deutschen in der Kultur. Die leere Mitte Berlins sollte gefüllt werden: Das Feuilleton verlangte nach einem Hauptstadtroman, die Politik nach der Wiederauferstehung eines Barockschlosses. Zugleich blickte man mit arrogantem Naserümpfen auf die außereuropäische Kulturproduktion. Als der im Karibikstaat St. Lucia geborene Derek Walcott im Jahre 1992 nicht zuletzt für seine atemberaubende Homer-Umdichtung Omeros den Nobelpreis erhielt, da war das für manche deutsche Kritiker ein Grund zur Häme – der Mann habe seinen Preis wohl nur aus Gründen der politischen Korrektheit erhalten.
Zu jener Zeit wurde unter den europäischen Intellektuellen über „Postkolonialismus“ und „Kreolisierung“ diskutiert, über die „Poetik der Beziehung“ (Edouard Glissant), die sich nicht primär für das Eigene, sondern für das Chaos der internationalen Verknüpfungen interessierte. 2009 erhielt allerdings ausgerechnet Herta Müller den Nobelpreis. In einem Vortrag 2000 hatte sie sich beschwert, dass es im Alltag für sie keine „Normalität“ gebe, weil sie ständig gefragt werde, woher sie komme, während die Kritik stets eine „Normalität“ einfordere, die das Annulieren ihrer Geschichte verlange: „Sie raten mir, mit der Vergangenheit aufzuhören und endlich über Deutschland zu schreiben“.
20 Jahre nach der Einheit beginnt man in Deutschland zumindest ansatzweise zu begreifen, dass gerade jenes durch die Zeit in Rumänien gebrochene Deutsch-Sein die interessantere Erfahrung und auch ein besserer Ansatzpunkt für die Gestaltung des Zusammenleben sein könnte als irgendwelche hehren Ideale von „Deutsch-Sein“. Heute gibt es in Deutschland eine enorme Vielheit von Lebensentwürfen und Aufenthaltsperspektiven, von sozialen Situationen und kulturellen Hintergründen. Rückwärtsgewandte Debatten wie zuletzt die über Thilo Sarrazin zeigen die Gesellschaft als Nullsummenspiel, in dem die Mehrheit in erster Linie etwas zu verlieren hat. Dabei gälte es, die unvollendeten Aufgaben von 1990 und 2000 aufzunehmen und die „Transition“ als Aufgabe der Zukunft zu betrachten.
Bevölkerung statt Volk
Im April 2000 hat der Bundestag eine interessante Entscheidung getroffen, die dem Zustand des Übergangs und den Gestaltungsaufforderungen der „Transition“ symbolisch gerecht wird. Das Haus beauftragte den Künstler Hans Haacke mit der Errichtung eines Kunstwerkes im nördlichen Lichthof. Dort steht nun in Leuchtschrift „der Bevölkerung“, was mit dem Spruch auf dem Giebel des Hauses korrespondiert: „dem deutschen Volke“. Die Widmung auf dem Giebel wurde 1916 angebracht – es handelte sich um ein zähneknirschendes Zugeständnis des Kaisers an den Plebs. Ohne Zweifel transportiert „das Volk“ trotz der Demonstrationen von 1989 in Deutschland weiterhin eine ausschließliche Bedeutung, eine ethnische Absolutheit. Dem wollte Haacke mit „der Bevölkerung“ entgegen treten. Die „Einheit“ ist 1990 vollzogen worden, das „Volk“ ist 2000 von der Blutsbrüderschaft befreit worden, und nun geht es darum, der „Vielheit“ endlich eine Form zu verleihen.
Mark Terkessidis, Jahrgang 1966, hat Psychologie studiert und über das Rassismus-Wissen unter Migranten der zweiten Generation promoviert. Zuletzt erschien von ihm Interkultur in der edition Suhrkamp
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