Jetzt suchen sie alle das Frankreich, "das früh aufsteht", das morgens am Tresen der Bistros steht, in den Polizeiwachen der Vorstädte der Allgemeinheit dient, die Werkstore passiert. Das ehrliche Frankreich, das arbeitsame und rechtschaffene, das sich plagt und doch immer zu kurz kommt; das Frankreich der kleinen Gendarmen und Büroangestellten, das lange vor Geschäftsbeginn an der Pariser Börse aus dem Bett fällt, aber nie einen Bonus oder einen goldenen Handschlag sieht.
In knapp sechs Monaten steckt dieses Frankreich wieder Wahlzettel in die Urnen. Und da kann einiges schief gehen. Im April 2002, bei den vorangangenen Präsidentschaftswahlen, stand plötzlich Jean-Marie Le Pen, der scheinbar ewige Führer der französischen Rechtsextremen, in der Stichwahl. Ein Desaster für die Sozialisten damals und ihren Kandidaten Lionel Jospin, eine Blamage für das Land.
Die Sozialistische Partei dürfe "nicht Sarkozy nachlaufen, der Le Pen nachläuft", warnt Laurent Fabius, einer der Bewerber des P.S., dessen Mitglieder in diesen Wochen das parteiinterne Geplänkel um die Präsidentschaftskandidatur mit ihrer Aufmerksamkeit beehren. Doch genauso läuft nun das Jagdrennen um das höchste Amt im Staate: Ab durch die Mitte mit rechten Parolen von Ordnung, Sicherheit und Anständigkeit. Nicolas Sarkozy, der Innenminister, gibt das Tempo vor. Morgens um fünf stürmt sein Wahlkampftrupp - 100 Polizisten nebst geladenen 30 Journalisten - in der Pariser Banlieue eine Immigrantenwohnung, aus der Kieselsteine auf eine Polizeistreife geworfen worden sein sollen. Und das Frankreich, das früh aufsteht, nickt und billigt. Zwei Drittel der Franzosen, so heißt es in einer Umfrage, sind der Meinung, dass die Justiz zu lasch sei - Nicolas Sarkozy habe mit seiner Kritik an den zu nachsichtigen Richtern Recht.
Das Nationale und das Soziale im Gleichschritt will Ségolène Royal
Noch hat die bürgerliche Präsidentenpartei UMP (Union pour le Mouvement Populaire), die Staatschef Chirac entglitten ist und von Sarkozy geführt wird, ihren offiziellen Kandidaten für die Wahlen im April 2007 nicht bestimmt. An seinem Anspruch auf den Elysée-Palast lässt jedoch der agile Innenminister längst keinen Zweifel mehr. Glaubt man den Meinungsforschern, geht Sarkozys Strategie, Le Pen nachzulaufen, glänzend auf: Ein halbes Jahr vor den Wahlen liegt der alternde Chef des Front National (FN) bei 9,5 Prozent, weit entfernt von den fast 17 Prozent, die ihm 2002 zum Einzug in die zweite Runde der Präsidentenwahl gereicht hatten. Sarkozy aber führt mit weitem Vorsprung die Liste der Bewerber an. 38 bis 39 Prozent geben ihm zwischenzeitlich die Demoskopen, seinen Abstand zur Favoritin der Sozialisten hat er ausgebaut - für Ségolène Royal würden derzeit etwa 29,5 Prozent der Franzosen votieren.
"So lange es in diesem Land keine einfachen Prinzipien gibt, wonach zum Beispiel jedes Monatsgehalt über 40.000 oder 50.000 Francs (heute: 6000 bis 7.500 Euro) anormal ist, wird es Gewaltausbrüche geben, die gerechtfertigt sind", hatte die Ex-Ministerin 1995 getönt. Im Abstand von elf Jahren und nach der Euro-Inflation nehmen sich diese Gehälter nicht mehr allzu unanständig aus, der jetzt anlaufende Wahlkampf erinnert allerdings erstaunlich an Kontext und Stimmung in den neunziger Jahren.
Nicolas Sarkozy provoziert mit Strafaktionen in den Einwanderervierteln der französischen Großstädte, der Abschiebung schulpflichtiger Kinder oder der gewaltsamen Räumung besetzter Häuser das Risiko eines neuen großen Aufstands in der Banlieue wie vor genau einem Jahr. Soziale Benachteiligung, das Leben am unteren Ende der Gehaltsskala bringen die Franzosen "erster Abstammung" gegen die größtenteils eingebürgerten Einwandererfamilien aus dem Maghreb und Schwarzafrika auf. Angetrieben von den Rechtsextremen versuchen die Konservativ-Bürgerlichen wie die Sozialisten den Ruf nach dem Ordnungsstaat aufzufangen, ja aufzunehmen und weiter zu geben. Weit mehr als ihre beiden verbliebenen Rivalen in der eigenen Partei - Laurent Fabius und Dominique Strauss-Kahn - spielt Ségolène Royal auf dieser Klaviatur. Einen seltsamen Slogan, der wohl eine Art Formel sein soll, hat sie dafür gefunden: "Bei uns marschieren das Nationale und das Soziale im Gleichschritt", sagt sie bei einem Auftritt vor Parteianhängern ausgerechnet in Vitrolles - jener Kleinstadt im Süden Frankreichs, die einst Cathérine Mégret zur Bürgermeisterin gewählt hat, die Ehefrau des rechtsextremen Bruno Mégret - einen der talentiertesten Nachwuchspolitiker, den der Front National einst besaß. Vitrolles ist mittlerweile wieder sozialistisch, weil es die Partei dort offenbar verstanden hat, der geschürten Furcht und Fremdenfeindlichkeit zu begegnen, ohne die Psychosen weiter anzufachen.
Von der "tabula rasa" sprechen die Politikanalysten nun - vom großen Schnitt, den Royal und Sarkozy im Wahlkampf durch Sprache und Auftreten im Verhältnis zur Vergangenheit machen würden. Diese Zäsur lasse die beiden Mitbewerber bei den Sozialisten alt aussehen. Laurent Fabius, mit 38 Jahren einst Regierungschef des Präsidenten Francois Mitterrand, später Parteichef, Parlamentspräsident und Finanzminister, ist sicherlich der Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur beim P.S., der sich am weitesten links positioniert. Doch nehmen ihm das bisher nur wenige in der Partei und in der Bevölkerung ab.
20 Euro Beitrittskosten "für einen Neuanfang in Frankreich"
Dominique Strauss-Kahn dagegen - ebenfalls ein früherer Finanzminister - hat geringere Probleme mit der Glaubwürdigkeit; er präsentiert genau jenes sozialliberale Programm, das die Jahre der Linksregierung von Premier Lionel Jospin (1997-2002) durchzog. Eine Zeit, in der mehr privatisiert wurde, als sich die Bürgerlichen zuvor erlaubt hatten.
Bis Mitte November haben Fabius und Strauss-Kahn noch Zeit, das Ruder herumzureißen und Ségolène Royal die Kandidatur zu entwinden. Drei Fernsehdebatten und drei weitere Streitrunden vor Parteimitgliedern werden dann vorüber sein. Es ist eine ebenso mutige wie riskante Übung, die P.S.-Chef Francois Hollande, der Lebensgefährte Ségolène Royals, seinen Parteifreunden auferlegt hat. Bis zum 16. November, wenn die P.S.-Mitglieder in einer Urabstimmung über ihren Favoriten entscheiden, wird die Partei ein Muster an Zerrissenheit bieten. Die anstehenden Debatten könnten allerdings dazu führen, Schein und Sein der einzelnen Wahlprogramme voneinander zu scheiden. Für Ségolène Royal, die sich ganz ähnlich wie früher Bill Clinton von ihrem Instinkt und den Erwartungen der Bevölkerung - nicht von ideologischen Grundsätzen, wie sie stetig suggeriert - leiten lässt, ist das ein Handicap.
Einen Trumpf freilich hat sie: Am internen Votum des Parti Socialiste werden auch 70.000 neue Mitglieder teilnehmen - ein Drittel der Partei. Sie waren Royals Versprechen einer neuen "partizipativen Demokratie" gefolgt: 20 Euro Beitrittskosten "für einen Neuanfang in Frankreich", hieß es.
Derzeitiges Kräfteverhältnis in der Nationalversammlung
Bürgerliche Rechte
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.