Die Bounty vor der Meuterei

Frankreich Die "Clearstream"-Affäre zerfrisst das Regierungslager und läutet das Ende von Chiracs Präsidentschaft ein

Was für ein Abgang! "Er wird schnell zum Gespött der Welt werden", soll François Mitterrand mitleidlos über Jacques Chirac, seinen Nachfolger im Elysée-Palast, gesagt haben. Diese Tragödie aber, in der Frankreichs heutiger Staatschef steckt, bald 74-jährig, gesundheitlich angeschlagen, praktisch ohne politisches Erbe, aber nun den Verdacht einer haarsträubenden politischen Intrige wie eine Eisenkugel am Fuß hinter sich her ziehend - sie hat Mitterrand nicht vorausgesagt. Es wird wohl daran liegen, dass der Sozialist selbst ein, wenn auch brillanter, Regisseur der höfischen Ränkespiele war, in die Frankreich am Ende einer Präsidentenära zu versinken pflegt.

Die "Clearstream"-Affäre, die das Land nun seit einem Monat im Rhythmus der Enthüllungen dreier Printmedien - Le Monde, Le Point, Le Canard enchaîné - in Atem hält, ist ebenso komplex wie gefährlich. Die Republik sei keine "Diktatur des Gerüchts", sondern die Herrschaft des Gesetzes, warnte ein zunehmend verzweifelter Chirac im Kreis der Minister der von ihm bestellten Regierung, und er hat natürlich recht. "Clearstream" steht für das Lügengebilde um das gleichnamige Luxemburger Finanzinstitut zur Abwicklung von Wertpapiergeschäften mit seiner fingierten Liste angeblicher Schwarzkonten französischer Politiker. Dazu kommen geheimdienstliche Ermittlungen Dominique de Villepins gegen seinen Rivalen Nicolas Sarkozy, des Premierministers gegen den Innenminister. Dieses Szenario frisst das bürgerlich-konservative Lager auf, aber auch die Institutionen der Republik nehmen Schaden - das Amt des Staatspräsidenten, des Premiers, der Richter.

Alles ist denkbar in dieser Affäre, nichts wirklich belegt, niemand klagt noch offiziell an, niemand kann sich derzeit verteidigen. Nur der Termin der nächsten Präsidentschaftswahl, der allein das Denken der Politiker in Paris bestimmt, rückt immer näher. Im Mai 2007 fällt die Entscheidung über Chiracs Nachfolger. Jean-Marie Le Pen, der Chef des rechtsextremen Front National, sieht sich schon wieder in der Stichwahl. 2002 hat es der Saalschläger mit dem Glasauge ja vorgemacht und Jacques Chirac und die Republik mit einem geschenkten Sieg erniedrigt; linke und rechte Wähler gaben damals Chirac im Stichentscheid ihre Stimme, um Le Pen zu verhindern. Das Surreale als Normalfall - "Clearstream" macht´s möglich.

Die Maximalversion dieser Affäre lautet: Chirac und sein Premier Villepin haben sich verschworen, um Nicolas Sarkozy als nächsten Staatschef zu verhindern. Angebliche Schwarzkonten bei "Clearstream" sollten den populären Sarkozy in den Geruch der Korruption bringen, eine quälend lange Untersuchung der Vorwürfe dessen Präsidentschaftskandidatur zu Fall bringen. Geheimdienstgeneral Rondot wurde in der Sache verhört, das Protokoll auszugsweise veröffentlicht - wie auch dessen private Notizen, bei denen nicht ganz klar ist, unter welchen Umständen sie angefertigt wurden. Entsprechend zusammengelegt könnten diese von Journalisten ausgewählten Teilstücke auf ein Staatskomplott weisen. Vielleicht aber auch nur auf die Zirkelübungen überspannter Staatsbeamter in Geheimdiensten und Rüstungskonzernen, die eine Verschwörungstheorie aufgeblasen haben.

Doch mindestens so wichtig wie der Hintergrund der "Clearstream"-Affäre ist der Umstand, dass sie überhaupt glaubhaft sein kann und jetzt zur Selbstzerstörung des Regierungslagers führt. Wie sehr muss Frankreichs Staatswesen heruntergekommen sein, dass ein solches Komplott denkbar geworden ist? Wie entleert von Ideen und Programmen ist die bürgerliche Rechte geworden, dass sie sich einen bis zur persönlichen Vernichtung gehenden Kampf um das Präsidentschaftsamt liefern könnte? Mitterrand hatte seine Antwort gegeben. Und tatsächlich: Jacques Chirac, das "Gespött der Welt", hat in seiner Amtszeit schon viele Fehler begangen und Niederlagen eingesteckt - die Auflösung des Parlaments 1997, die ihm dann eine Linksregierung bescherte, das gescheiterte EU-Referendum 2005, der Missgriff mit Dominique de Villepin, der als Außenminister bestach, aber als Premier gescheitert ist. Bald, vielleicht schon zum Sommer, wird Chirac wohl eine Art Epilog-Regierung für den Rest seiner Amtszeit ernennen, mit einem neuen, aber unambitionierten Premier. Sarkozy, dessen Aufstieg er nicht verhindern konnte, wird dann seinen Ministerposten geräumt und den Wahlkampf begonnen haben.

Die Tragödie zeichnet aus, dass ihr Held seinem Schicksal nicht entrinnen kann, so sehr er sich auch wehren mag. Vielleicht wollte Mitterrand - der "Florentiner", wie er aufgrund seiner machiavellistischen Schachzüge genannt wurde - in Wahrheit wissen lassen, dass ihm Chirac auch auf dem Gebiet der politischen Manipulation nicht das Wasser reichen könnte: Chirac, der Gaullist mit der Regierung, in der nun ein Arbeitsklima herrschen muss wie auf der Bounty kurz vor der Meuterei, ist am Ende einfach zu ungeschickt gewesen. Der Mann, der Präsident sein wollte und 30 Politikerjahre daraufhin gearbeitet hatte, fand weder ein Programm für sich noch die Personen, mit denen er es umsetzen konnte.


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