Im Klassenzimmer irgendeiner Schule in Frankreich dürfen Mädchen damit nicht sitzen, an der Kasse im Supermarkt an der Ecke sehr wohl - geht eine Muslimin mit einem Kopftuch zur Anhörung in einen Ausschuss des französischen Senats, gilt dies als eine Art politische Unsportlichkeit, die wochenlange Gefechte auf den Kommentarseiten der Pariser Presse nach sich zieht. Arbeitet diese Muslimin dagegen zufällig als Kontrolleurin bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben in Lyon, wird sie suspendiert. Frau Abdallah geht gerade in Berufung.
Kleines Labor für Physik und Chemie
Eigentlich ist der neue Streit in Frankreich um das Kopftuch der Muslime gar nicht wichtig, meint einer, der - als Mann natürlich - den Islam nun offiziell gegenüber dem Staat vertritt. Der Schleier sei keine zentrale Frage, sagt Abdelhaq Nabaoui, "der Islam ist mehr als ein Kopftuch". Die französische Regierung sieht das ganz genau so und denkt bei "Islam" an 9/11/2001 und an die erkleckliche Zahl mutmaßlicher al Qaida-Mitglieder, die seither in Frankreich festgenommen wurden.
So kommt es, dass die 15 Jahre nach einem Urteil des Verfassungsgerichts wieder entflammte Debatte um das Kopftuch und die strikte Trennung von Religion und Staat eher verdeckt, was im laizistischen Frankreich niemand offen sagen will: Der Staat misstraut der Religion. In Wirklichkeit geht es heute um die politische Kontrolle der vielleicht fünf Millionen Muslime im Land. Abdelhaq Nabaoui weiß das sehr wohl und spielt mit. Er gehört der als "islamistisch" etikettierten Union der Islamischen Organisationen in Frankreich (UOIF/s. Übersicht) an. Dass ausgerechnet dieser Dachverband von mehr als 200 Einzelorganisationen den neu geschaffenen Muslimrat, mit dem Frankreichs Innenminister Nicolas Sarkozy den politischen Islam in Frankreich kanalisieren wollte, nun auf nationaler wie regionaler Ebene dominiert, gehört zur Ironie dieses polizeistaatlichen Kalküls.
Einen ersten symbolischen Sieg hat die UOIF schon eingefahren: Im September öffnet in Lille Frankreichs erstes muslimisches Gymnasium. Drei Klassenzimmer und ein kleines Labor für den Physik- und Chemieunterricht, das Ganze in der zweiten Etage der Moschee von Lille-Süd für nicht ganz zwei Dutzend eingetragene Schüler bislang.
Nabaoui ist selbst Physiklehrer, allerdings in Molsheim im Elsass. Dort ist der 38-Jährige im vergangenen Juni auch zum Vorsitzenden des regionalen Muslimrates gewählt worden. In 11 von 22 Regionen Frankreichs stellt die UOIF den Präsidenten, im nationalen Rat der Muslime hat Innenminister Sarkozy wohlweislich schon vor der Wahl die Posten vergeben: Zum Präsidenten bestimmte er den Rektor der Pariser Moschee, Dalil Boubakeur, der die alte algerische Gemeinschaft in Frankreich vertritt; den Posten des Vizepräsidenten vergab er paritätisch an Fouad Alaoui, den Generalsekretär der UOIF, und an Mohamed Bechari, den Vorsitzenden der marokkanisch dominierten Nationalen Föderation der Muslime in Frankreich (FNMF), die nur knapp vor der UOIF die Mehrheit im Nationalrat der Muslime stellt. Nabaoui und seine Gesinnungsfreunde sind im Elsass ähnlich verfahren und haben die Konkurrenz ebenfalls mit repräsentativen Ämtern bedacht. Über die Vormacht ihrer UOIF haben sie aber keine Zweifel. "Wir sind immer vor Ort in der Banlieue", sagt Nabaoui. Zu unserem Gespräch bittet er in die Caféteria eines Einkaufszentrums am Stadtrand von Straßburg.
Eine Art Alkoholtest für die Standhaften
Der Erfolg der UOIF bei den ersten, mehr oder minder demokratischen Wahlen für eine konfessionelle Vertretung im Land hatte seinen Grund in der Nähe der UOIF-Verbände zum Alltag der Muslime. Die "Union" ist mit ihren Ablegern überall präsent: sie betreibt Kindergärten, Studentenzirkel, Kleiderbörsen, gibt Nachhilfe, sammelt für Palästina, vereint Ärzte und Anwälte in Standesorganisationen. "Kommunitarismus" nennt das der Soziologe Mark Chebel, also das Gegenstück zur universalen Idee der französischen Republik.
Die jahrelange Basisarbeit der UOIF trage nun ihre Früchte, die "Vorzeichen einer moralischen Führung der Muslime" seien schon zu erkennen - die Verbreitung des Kopftuchs in den Schulen sei nur ein Beispiel.
Für Abdelhaq Nabaoui, den Schullehrer und Präsidenten, ist das nicht wirklich ein Problem. Von der "Würde des Islam" spricht er, die im Alltag zu verteidigen sei, und davon, dass sich Frankreichs Muslime in die Gesellschaft integrieren müssen. Einerseits sehr wohl Kopftuch, andererseits eben nicht. Was die Kritiker Innenminister Sarkozy und seiner Idee eines nationalen Muslimrates vorwerfen, dass nämlich der Rat keine "weltlichen" Muslime zulasse, aber höchstens ein Fünftel der Muslime in Frankreich tatsächlich gläubig sei - das lässt Nabaoui nicht gelten. "Ich sehe nicht, welchen Sinn ein laizistischer Rat der Muslime besäße". Katholiken und Juden haben auch ihre Vertretung im Land, sagt er zu Recht, und die französischen Muslime suchten ansonsten ganz individuell ihren Platz im politischen Raum, sie wählten links oder rechts, Chirac oder die Sozialisten.
Dennoch wandelt die UOIF auf einem schmalen Grat durch die Republik. Mit dem Begriff "gemäßigter Islam" könne er nichts anfangen, sagt Nabaoui, "gibt es da eine Art Alkoholtest, nach dem man feststellen kann, wie gläubig oder wie radikal einer ist?" - Wegen ihrer Vision eines ganzheitlichen Islam rücken die Gegner der UOIF die Organisation regelmäßig in die Nähe der 1927 in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft und behaupten, die UOIF wäre ähnlich extremistisch. "Ich habe Jugendliche gesehen, die in Richtung des Extremismus gehen und die einen wörtlichen Islam praktizieren wollen, der nicht im französischen Kontext möglich ist", erzählt dagegen der Lehrer Nabaoui über die Vorstädte im Elsass. Ein staatliches Verbot des Kopftuchs der Frauen würde diese jungen Männer nur in die Arme der Extremisten treiben. Eine zwingende, aber gleichwohl absurde Logik, die mehr über die Doppelbödigkeit eines religiös verbrämten Machismus aussagt als über die von vielen jungen Gläubigen so stark empfundene moralische Leere des republikanischen Staates.
Nicolas Sarkozy wurde ausgebuht, als er im Frühjahr - als erster französischer Innenminister - auf der jährlichen Heerschau der UOIF in der großen Messehalle von Le Bourget sprach und ein Polizeigesetz verteidigte: Auf dem Foto eines französischen Personalausweises darf der Kopf der Inhaberin oder des Inhabers nicht bedeckt sein. Denn die Republik ist ein großes Muttertier und will ihre Bürger eben vollständig sehen. Frankreich leistet sich eine Debatte um Religionskontrolle und Terrorprävention, die sich ein soziologisches Mäntelchen umhängt.
Muslimische Badetage in Lille
Wenigstens haben sich längst auch die eingemischt, deren Meinung Politiker wie Imame nie wirklich interessiert hat - die Frauen. Sie hauen auf den Tisch wie Fadela Amara, die mit dem Slogan "Ni putes ni soumises!" - "Weder Huren noch Unterworfene!" einen fünf Wochen langen Befreiungsmarsch durch Frankreichs Städte startete, in den Banlieues die Selbstbestimmung der jungen Frauen gegenüber konservativen Familien und religiös eifernden Jungmännern proklamierte und schließlich bis zum Pariser Parlament kam: Zum Nationalfeiertag am 14. Juli durfte sie eine Ausstellung eröffnen, die 14 überlebensgroße Porträtaufnahmen von Frauen zeigte - Maghrebinerinnen, Schwarzafrikanerinnen, Töchter südeuropäischer Einwanderer, die als "Marianne" posierten. Eine Art Benetton-Werbung für die Republik.
Und dann gibt es da Dounia Bouzar, die auf Vorschlag des Innenministers als einzige Frau im nationalen Muslimrat sitzt. Die Bürgerrechtlerin und Autorin mehrerer Bücher über den Islam tritt für ein radikal individuelles Verständnis der Religion ein. Die Kleidung macht noch keinen Mönch, sagt sie: "Wer sich ein Kopftuch umbindet, muss nicht gleich eine verbohrte Muslimin sein." So lautete schließlich auch die Linie der Verfassungsrichter von 1989, die den Schuldirektoren frei stellten, ob sie Schülerinnen mit dem "foulard" akzeptierten oder nicht. Die neunziger Jahre mit den Demonstrationen der Brüder unter dem Slogan "Euer Schleier, unsere Ehre" seien aber vorbei, sagt Bouzar. Heute sei die persönliche Beschäftigung mit dem Islam für die jungen Frauen in Frankreich ein Weg, um zwei Welten zu verbinden - die Familie mit ihrem Zwang zur Tradition und den französischen Staat mit seinem Zwang zur Assimilierung.
Im Namen der Emanzipation hat Martine Aubry, Bürgermeisterin von Lille und ehemalige sozialistische Arbeitsministerin, in diesem Sommer für eines der vier Freibäder der Stadt besondere Badetage für muslimische Frauen zugestanden - und nur das Gegenteil bewirkt. Für viele Franzosen ist das ein gesellschaftlicher Rückschritt. Irgendwie läuft die schöne Spieluhr Republik nicht mehr wirklich rund.
Präsident Chirac hat erst einmal eine große Sachverständigenkommission einberufen wie immer, wenn es um die großen Fragen des Staatsganzen geht. Die Weisen sollen über eine Neudefinition der Laizität Frankreichs brüten. Keinesfalls über eine Abschaffung des historischen Gesetzes von 1905, mit dem Staat und Kirche getrennt und die politische Macht der katholischen Priester beerdigt wurde. Sehr wohl aber über eine Formel, die alles löst: die Identitätskrise der Republik, die soziale Benachteiligung der Einwanderer, die Bedrohung des Staates durch den Extremismus.
Frankreichs große Muslimorganisationen
Die Moschee von Paris
Die traditionelle Vertretung der Muslime in Frankreich - der Vater des heutigen Rektors Dalil Boubakeur, Si Hamza Boubakeur, führte die Moschee von 1957 bis 1982 unter anderem durch den Algerienkrieg und war selbst mehrfach Parlamentsabgeordneter und Senator. Die Große Moschee im 5. Pariser Arrondissement gehört mittlerweile dem algerischen Staat.
Fédération Nationale des Musulmans de France (FNMF)
Die zweite landesweite Organisation, die in der marokkanischen Gemeinschaft verankert ist. Vorsitzender: Mohamed Bechari.
Union des Organisations Islamiques en France (UOIF)
Gegründet in den achtziger Jahren als Dachverband von mehr als 200 Einzelorganisationen, die in allen Bereichen des Alltagslebens der französischen Muslime verankert sind, nicht zuletzt durch Substrukturen wie: Jeunes Musulmans de France (JMF), Etudiants Musulmans de France (EMF), Ligue Francaise de la Femme Musulmane (LFFM). Die UOIF gilt mittlerweile als einflussreichste, aber auch sehr diffuse Muslimorganisation, die direkt nur 30 Moscheen kontrolliert, aber in 150 bis 200 entscheidendes Gewicht hat. Sie betreibt ein eigenes Ausbildungszentrum für Imame im Department Nièvre. Vorsitzender: Lhaj Thami Brèze
Conseil Francais du Culte Musulman (CFCM)
Dieser neue Nationale Französische Muslimrat wurde im April 2003 auf Initiative des französischen Innenministers gewählt, Von den 41 Sitzen entfielen: 16 auf die FNMF, 14 auf die UOIF, sechs auf die Moschee von Paris und zwei auf den CCMTF (türkische Muslime in Frankreich), die restlichen Mandate gingen an drei Unabhängige. Schließlich fielen 11 der 22 regionalen Muslimräte bei Wahlen im Juni an die UOIF.
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