Er war als erster Staatschef nach dem 11. September im Weißen Haus - doch irgendwie muss dann der Faden gerissen sein, den Jacques Chirac am Morgen nach der Katastrophe zwischen Frankreich und den USA spinnen wollte. Den Krieg mit al Qaida und den Taleban begannen die USA allein mit den Briten, und auch sonst lebt Frankreich sonderbar einsam am Rand dieser internationalen Krise: Die eleganten Diplomaten im Leerlauf, der neue Flugzeugträger im Trockendock in Toulon, die Antriebsschraube gebrochen, das Schiff aber - militärisch gesehen - immer noch der letzte Schrei, Frankreich scheint in der internationalen Anti-Terror-Koalition untergegangen.
Die wunderbare Welt der Amélie kennt keine bärtigen Kalaschnikow-Träger und kein Anthrax. Die Zugführer der SNCF st
er SNCF streiken wie immer wegen Lohnforderungen, die Grünen tauschen unter großem Interesse der Medien einen Präsidentschaftsbewerber aus, der beim Duell Chirac-Jospin nächstes Frühjahr ohnehin nur ein Zählkandidat sein wird, sogar die Concorde darf wieder über den Atlantik fliegen, runderneuert nach dem Absturzkatastrophe im vergangenen Jahr als blau-weiß-rot aufgepumpter Techno-Patriotismus."Drôle de paix", nennt das Pierre Lellouche verächtlich, der außenpolitische Wortführer von Chiracs gaullistischer Partei RPR. Seine Lieblingsidee seit Neuestem, "Drôle de paix" statt des "Drôle de guerre" von 1939, dem "seltsamen Krieg", als die Franzosen fast ein Jahr lang auf die Deutschen warteten, aber nichts passierte. "Heute tun sie so, als ob Frieden wäre, dabei haben wir einen Weltkrieg", meint Lellouche abends in seinem Pariser Wahlkreisbüro, noch aufgekratzt von zwei Stunden Wählermassage auf den Trottoirs des 4. Arrondissements.Dabei dürstet es Regierung und Präsident nach internationaler Anerkennung. 2.000 französische Soldaten nähmen bereits unterstützend am Feldzug der USA gegen Afghanistan teil, gab Chirac bei seinem jüngsten Besuch in Washington - dem zweiten nach den Anschlägen vom 11. September - bekannt und verblüffte Bürger wie Parlamentarier zu Hause, die sich nicht erinnern können, über einen Einsatz ihrer Armee abgestimmt zu haben. Länger schon operiere der französische Geheimdienst auf afghanischem Boden, lässt Alain Richard, der sonst eher stille Verteidigungsminister, ganz beiläufig verlauten. Kein versehentlich entschlüpfter Satz, versichert er. "Ich wollte deutlich machen, dass Frankreich eine aktive Rolle bei der militärischen Aufklärung spielt und dass dies ein Risiko für die beteiligten Agenten ist", erklärt er später dem Figaro, "das ist ein wichtiger Vorteil für unseren Einfluss" - "grandeur" also.Paris hat mangels tatsächlicher militärischer Teilhabe in Afghanistan in den vergangenen Wochen eine gewisse diplomatische Aktivität entwickelt. Außenminister Hubert Védrine ist in der saudischen Hauptstadt Riad aufgetaucht - Yassir Arafat im Elysée-Palast. Lakhdar Brahimi, der UN-Sondergesandte für Afghanistan, ließ sich auf dem Rückflug von seiner ersten Sondierungsreise in der Region zu einem Zwischenstopp in Paris bitten. Aber alles wirkt ein wenig ziellos, entschieden wird sowieso anderswo - es ist die Stunde des Pentagon. Über einen Besuch von Premier Jospin in Moskau schreiben Pariser Zeitungen gar, er spiegle den Willen der Regierung wider, bei den Beziehungen zu Russland nicht ins Hintertreffen gegenüber den Deutschen zu geraten. Selten wirkte Frankreichs Rivalitätsdenken inhaltsloser. Mit dem 11. September hat die alte Geopolitik der Grande Nation wohl endgültig abgedankt, nicht nur gegenüber Deutschland und anderen Europäern, auch im Verhältnis zu Washington. Die charmante Arroganz, mit der Charles de Gaulle einst sein Publikum über "L´Amérique, notre fille" - "unsere Tochter Amerika" - aufklärte und auf Frankreichs geistige Vaterschaft der amerikanischen Revolution von 1776 verwies, verfängt heute nicht mehr."Wir sind überholt worden vom Aktivismus des Herrn Blair und von der Selbstbehauptung eines neuen Deutschlands", räsoniert der Abgeordnete Lellouche, der eigentlich von Anfang an das volle Militärprogramm haben wollte - französische Intervention in Afghanistan, neues Verteidigungsbudget inklusive. "Aber ich bin selbst total in der Minderheit", sagt er über die Gaullisten und lacht. Unerquickliche Zeiten sind das jetzt in Paris: Die ohnehin nie leichte Cohabitation zwischen dem gaullistischen Präsidenten und dem sozialistischen Premier wird vom Präsidentschaftswahlkampf vereinnahmt. Noch hat sich keiner der beiden öffentlich zum Kandidaten erklärt, doch kalkuliert wird längst: Ist das jetzt gut oder schlecht für die Wahlchancen? "Absolute Solidarität" versichert Jacques Chirac in Washington. "Wenn uns die Situation in ein Räderwerk bringt, das wir nicht wünschen, dann - was mich betrifft - stehe ich dafür nicht zu Verfügung", überlegt Lionel Jospin laut in der Nationalversammlung. Der Einfluss der heraufdämmernden Wahl auf die "Entscheidungsprozesse" derzeit sei - nun ja - "nicht sehr positiv", meint Lellouche. Die beiden Köpfe an der Spitze der Exekutive überwachten sich gegenseitig und würden ständig die öffentliche Meinung messen, klagt er halb verzweifelt.