Ein denkwürdiger Herbst. Jeden Tag historische Zäsuren, jede Woche ein Sondergipfel. Ganz Europa ist sarkotisiert. Oder fast ganz Europa: Die Deutschen ziehen nicht recht mit, was Frankreichs Präsidenten erbost. Auch die Tschechen scheinen Widerstand zu leisten. In knapp zwei Monaten nehmen sie Nicolas Sarkozy die EU-Präsidentschaft ab, mitten in der globalen Finanzkrise, dieses fulminante Chaos, das Sarkozy dirigieren will - mit und notfalls auch gegen die Partner in der EU. Zwei Monate noch: eine Ewigkeit und ein Wimpernschlag für einen Macher wie ihn.
Ein neuer de Gaulle
Der energische Präsident spürt den Zug der Zeit, deutlicher vielleicht als andere Staats- und Regierungschefs im gebeutelten Westen. Der Reflex auf den Banken- und Börsenkrach ist freilich eingeübt, das Vokabular bekannt, das Rezept zur Rettung hat Frankreichs politische Klasse im Grunde schon seit Jahren in der Schublade. Kein anderer G 8-Staat nährt insgeheim so sehr den Zweifel am Markt. In Zeiten von Krise und innerer Anspannung schlägt man in Paris immer wieder den Dreiklang von Industriepolitik, Protektionismus und Staatsglaube an. Nun kommt noch Sarkozys unstillbarer Hang zum Aktionismus hinzu. Ein neuer de Gaulle?
Schnell kalkulierend, die Gunst der Stunde erkennend, die in der Finanzkrise wie in der strategischen Lage nach dem Krieg in Georgien liegt, will der Präsident Fakten schaffen: Europa in der leeren Zeit des Machtübergangs in Washington endlich auf Augenhöhe mit den USA bringen. Die Amerikaner vielleicht überholen und die entscheidende Rolle beim Aufbau eines neuen internationalen Finanzsystems nach dem Vorbild von Bretton Woods anno 1944 spielen; eine Art Wirtschaftsregierung in der EU installieren und bis 2010 die Gruppe der Euro-Länder führen; Europa schließlich in ein neues Gleichgewicht gegenüber dem wieder erstarkten Russland und den USA bringen, nachdem die EU - das heißt: Sarkozy - im August allein in der Lage war, eine Art Waffenruhe zwischen Moskau und Tiflis zu vermitteln. Ein gaullistisches Programm?
Der historische Kontext legt den Vergleich natürlich nahe. 50 Jahre ist es her, dass sich Charles de Gaulle wieder an die Macht bitten ließ und die Konkursmasse der IV. Republik übernahm. Er ließ die Verfassung für eine Präsidialdemokratie ausarbeiten und im September 1958 durch ein Referendum mit knapp 80 Prozent grandios bestätigen (die geschrumpfte linke Wählerschaft fand sich in den übrigen 20 Prozent wieder). Am 21. Dezember 1958 ließ sich der General schließlich zum ersten Präsidenten der V. Republik wählen - 78,5 Prozent der Franzosen votierten für ihn. Politik sei die Kunst, die Realität zu interpretieren und zu nutzen, sagte de Gaulle ebenso elegant wie banal in jenen Wochen, als er der algerischen Befreiungsfront FLN einen "Frieden der Tapferen" anbot, sozusagen von Soldat zu Soldat und mitten im Krieg. Nicolas Sarkozy war damals drei Jahre alt.
Ein geschickter Wendehals
Wie sein illustrer Vorgänger reist er nun landauf landab und hält Reden zur Lage der Nation und der Welt, deren programmatische Aussage dann mit dem Namen der jeweiligen Stadt verbunden wird. In der "Rede von Toulon" (25. September) überrascht der bürgerlich-konservative Sarkozy die Öffentlichkeit mit einem Generalangriff auf den Finanzmarkt und verlangt ein neues Verhältnis "zwischen Wirtschaft und Politik durch die Bereitstellung neuer Regulierungen". In den "Ankündigungen von Annecy" (23. Oktober) verspricht Sarkozy Unternehmern die Abschaffung der Gewerbesteuer für Investitionen, die bis Jahresende getätigt werden - geschätzte Kosten für den Staat: eine Milliarde Euro - sowie die Einrichtung eines "strategischen Investitionsfonds", aus dem Frankreichs Unternehmen schöpfen könnten, ein Rückgriff auf die Zeiten der gaullistischen Industriepolitik. Premier Georges Pompidou, ein ehemaliger Banker, schuf Anfang der sechziger Jahre das Institut der Industriellen Entwicklung (IDI); es sollte Unternehmen mit Kapital versorgen, weil die Banken auch damals zurückhaltend bei der Kreditvergabe waren.
Sarkozy pflügt sich weiter durch das angeschlagene Land. In der "Rede von Rethel", einer kleinen Industriestadt in den Ardennen (28. Oktober), verspricht der Staatschef mehr staatlich subventionierte Arbeitsverträge - 330.000 für 2009 (s. Seite 8). Er versuche pragmatisch zu sein, sagt Sarkozy, wohl wissend, dass man ihm vorhalten wird, noch vor ein paar Wochen routiniert gegen die "soziale Alimentierung" der Arbeitslosigkeit gespottet zu haben. Zwischen seinen Auftritten auf der nationalen Bühne erfindet er neue Mechanismen für das politische Europa und füllt selbst die Löcher, die der Vertrag von Lissabon einmal füllen sollte. Noch während des Kaukasus-Krieges im August schickt er seinen Außenminister auf Vermittlungsmission - im Namen der EU, aber ohne die anderen 26 Mitglieder groß zu konsultieren. Das Ergebnis, am Ende vom Präsidenten selbst in Moskau verhandelt, erzwingt Georgiens Kapitulation, von Sarkozy mit dem Begriff Waffenruhe ummantelt und um einen Teilrückzug der russischen Armee angereichert.
Dreimal hat Sarkozy bisher als EU-Ratspräsident wegen der Finanzkrise zum Sondergipfel geladen. Das erste Treffen von nur vier großen EU-Staaten am 4. Oktober - welche Idee! - scheitert, weil sich Angela Merkel querlegt; das zweite, größere, am 12. Oktober, erbringt konzertierte Garantien der EU-Staaten für die Banken. Sarkozy treibt an, brüskiert, erledigt im nationalen Alleingang, was er zuvor als gemeinsames Vorhaben der 27 präsentiert. Tempo ist wichtig, die Pose ist alles. Kein französischer Staatschef seit de Gaulle hat die Formel des "Ich habe entschieden" in öffentlichen Reden ungenierter vorgetragen als Sarkozy, der Duzfreund zahlreicher Industriemagnaten, deren Reichtum ihm so imponiert.
Ein Wendehals? Natürlich. Sarkozys Kapitalismuskritik in Toulon sollte der Linken den Wind aus den Segeln nehmen, keinesfalls das Wirtschaftssystem erschüttern. Doch der gemeinsame Strang von Etatismus und Managerwelt liegt tiefer, jenseits von rechts und links. Seit 2004 läuft in Wahrheit wieder die staatliche Industriepolitik auf vollen Touren, es begann mit der feindlichen Übernahme des deutsch-französischen Pharmakonzerns Aventis in jenem Jahr durch Sanofi, protegiert von einem Finanzminister namens Sarkozy. Als Innenminister und Präsidentschaftskandidat fordert der bald darauf eine Wirtschaftsregierung für die EU und ein neues Statut für die Europäische Zentralbank, gewissermaßen der Nachschlag zum "Europa der Vaterländer", das de Gaulle einst wollte und das heute nicht mehr realistisch ist.
Doch war der General ein Mann mit Geschichte, als er vor 50 Jahren Präsident wurde. Sarkozy ist wild entschlossen, sich nun eine Geschichte zu schreiben. Indem er den Unterschied von Anspruch und Wirklichkeit, von Wollen und Können verwischte, hat sich de Gaulle oft der Lächerlichkeit preisgegeben. Diese Gefahr droht Sarkozy erst recht.
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