Natürlich ist das Geschmackssache. Aber das Poitou ist die beste Ecke Frankreichs. Eine Mantel-und-Degen-Kulisse wie aus den Jugendbüchern mit schnurgeraden Straßen, die durch Sümpfe und Sonnenblumenfelder zum Atlantik führen. Und natürlich ist auch der rasante Aufstieg von Ségolène Royal, die ihre Operationsbasis im Südwesten unterhält wie einst die Herzogin von Berry und nun zum Sturm auf Paris anstachelt, eher eine Frage des Geschmacks. Eine Entscheidung zwischen auffallend wenig politischer Substanz dieser Sozialistin und auffallend wenig Überzeugungskraft der mit ihr rivalisierenden Parteimänner, aber vielleicht das Beste, was der Linken im Land und den Franzosen im allgemeinen heute passieren kann.
Caroline von Bourbon, die Herzogin von Berry, versuchte 1832 noch einmal das Rad der Geschichte zurückzudrehen und schwatzte der Bevölkerung eine Neuauflage der Vendée-Kriege auf, eine Rebellion gegen die Juli-Revolution und den Bürgerkönig Louis Philippe in Paris. Der Aufstand brach schnell zusammen, und die rührige Herzogin wurde - 34 Jahre alt - erst einmal in die Festung Blaye an der Gironde eingekerkert. Nicht dass Ségolène Royal ähnliche monarchische Allüren hätte. Doch den selben Willen zur Macht besitzt sie offenbar durchaus, und "Ordnung" ist ihr Lieblingswort seit geraumer Zeit - die "alte Ordnung", in der die Familie noch zusammenhält und die Schulen funktionieren, und eine "neue Ordnung", in der Arbeitnehmer - der Globalisierung zum Trotz - anständig entlohnt werden.
Noch hält auch das demoskopische Hoch, und das Versprechen eines neuen Kapitels der Französischen Republik geistert durch Kolumne und Feuilleton. Ségolène Royal - halb spielerische Verschwörung, halb Husarenritt durch die Macho-Zirkel der eigenen Partei. Das Phänomen immer wieder aufgepumpt mit neuen Umfragen, um die sozialistische Politikerin aus der zweiten Reihe als einzig erfolgversprechende Präsidentschaftskandidatin der Linken bei den Wahlen im Mai 2007 zu präsentieren.
In Schüben rollt seit Monaten die "Royalmania" durch das Land, wird in Gazetten und Talkrunden über das "Mystère Royal" gerätselt, das größte, das königliche Geheimnis des Erfolgs von Ségolène Royal. Schnell hat sie versucht, das Etikett "Royalismus" für ihre bisweilen unorthodoxen, Progressives und altbacken Konservatives vermengenden Äußerungen zur Familienpolitik oder zur Arbeitslosigkeit aus den Zeitungen zu verbannen. Dafür lässt die 52-Jährige jetzt mit ihrem nicht weniger wohl klingenden Vornamen werben. Mehr inhaltliche Klarheit hat es nicht gebracht.
"Sag, was ist denn das nun wieder für ein neues Wort - der Ségolismus?", wollte François Hollande wissen. Das jedenfalls wird von einer gemeinsamen Autofahrt mit dem Parteichef der französischen Sozialisten kolportiert, Royals Lebensgefährten, mit dem sie vier Kinder hat, was alles nur wieder komplizierter macht. Schließlich könnte Hollande glauben, dass er als PS-Vorsitzender doch vielleicht auch das Recht auf eine Bewerbung um die Präsidentschaft haben sollte.
Seit Ségolène Royal bei den Regionalwahlen vor zwei Jahren auf Anhieb den Vorsitz über die Poitou-Charentes gewann - eine der kleinsten von Frankreichs 22 Verwaltungsregionen - wird sie in den Umfragen als Präsidentschaftskandidatin notiert. Es sind vage Fragen, die - werden sie nur häufig genug und im geeigneten Zusammenhang gestellt - wohl das gewünschte Resultat zeitigen und die Lawine ins Rollen bringen: "Wenn man die Politiker in zwei Lager einordnen müsste, das Lager der Reform und das Lager der Unbeweglichkeit, in welches Lager würden Sie die folgenden Persönlichkeiten einordnen?" - "Welche dieser beiden Persönlichkeiten würden Sie bevorzugen? X oder Ségolène Royal? Y oder Ségolène Royal? Z oder Ségolène Royal?" - "Sind Sie sicher oder halten Sie es für möglich, in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen für Ségolène Royal zu stimmen?"
Die Regionalpräsidentin und Abgeordnete aus dem Département Deux-Sèvres zwischen Niort und Poitiers, 350 Kilometer südwestlich von Paris, schlägt derzeit nur imaginäre Wahlschlachten. Ihre Plattform, von der aus sie mit den Franzosen kommuniziert, ist das Internet. Zwei Webseiten mit Namen, die wie eine Kaffeemarke oder die Werbung für eine Lebensversicherung klingen: "ségosphère" und "desirs d´avenir", beide organisiert von Thomas Hollande, dem ältesten Sohn. Ein "Wahlpotenzial" von zuletzt 67 Prozent ist für die Sozialistin errechnet worden, das höchste aller führenden französischen Politiker, auch wenn die Sozialistische Partei noch gar keinen Kandidaten - oder keine Kandidatin - benannt hat. Und das gemeinsame Wahlprogramm nur als Entwurf existiert, mühsam zusammengebunden von François Hollande und übrigens ohne Zutun seiner Lebensgefährtin, sie hat nicht allzu viel am Hut mit dem Parteiapparat.
Was stört es? Vor zwei Jahren sahen 55 Prozent der Befragten Ségolène Royal im "Lager der Reformen"; 65 Prozent waren es bereits im Mai 2005, versichern die Meinungsforscher und lassen offen, was man derzeit unter "Reform" verstehen darf.
Die anderen Anwärter bei den Sozialisten - Laurent Fabius, Jack Lang, Dominique Strauss-Kahn, alles erfahrene Ex-Minister und politische Schwergewichte - sehen mit einem Mal lächerlich aus. Männer, die ihr Ego spazieren führen und nach drei Jahrzehnten in der Tagespolitik nichts Neues mehr zu sagen haben. Der Ségolène-Effekt trifft vor allem auch Innenminister Nicolas Sarkozy, den Super-Mann, der sich gern öffentlich brüstet, er denke nicht nur morgens beim Rasieren an die Präsidentschaft. "Sie ist die Einzige, die Sarkozy 2007 schlagen kann", entschied Daniel Cohn-Bendit kürzlich, der mit deutscher Schlaumeierei Frankreichs Politikern und vor allem seinen Parteifreunden bei den dortigen Grünen auf die Nerven geht, aber selten falsch liegt. "Sie gehört zu den Leuten auf der Linken, die autoritär sind." Schöne Aussichten?
Ségolène Royal ist die Summe aller Mängel und allen Versagens, die Frankreich nach zwölf Jahren Präsidentschaft des Gaullisten Jacques Chirac zum Stillstand gebracht haben. Die Frau mit dem resoluten Charme der Direktrice eines Mädchen-Internats füllt den Platz aus, der durch den Überdruss der Franzosen an ihren Politikern entstanden ist - mit programmatischen Ideen erkämpfen muss Ségolène Royal diesen Platz nicht.
Das Feld der empfundenen Niederlagen in der Ära Chirac ist weit: Alle Rezepte gegen die Massenarbeitslosigkeit wurden probiert und sind weitgehend gescheitert. Frankreichs Schulen - einst die Garantie für sozialen Aufstieg - leiden unter Gewalt und finanzieller Auszehrung. Die Banlieue, das ist schon eine andere Welt, die Brücken dorthin sind abgebrochen oder abgebrannt. Es gibt viel Ohnmacht angesichts der Abwanderung von Unternehmen, und die ganze Republik mit ihrem Präsidialsystem des Charles de Gaulle aus den sechziger Jahren wirkt zuweilen wie ein Museumsstück. Auf der europäischen Bühne lässt sich ein Gefühl des Abstiegs kaum ignorieren.
Royal hat den Bonus der Außenseiterin. Ihr Kalkül ist klar: Die breiten Schichten ansprechen und deren Kritik an der Bilanz der Linksregierung von Lionel Jospin (1997-2002) bestätigen. Die breiten Schichten ansprechen und damit verhindern, dass Jean-Marie Le Pen, der Chef der Rechtsextremen, noch einmal wie 2002 in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl geraten kann.
Auf diese Weise kamen jene beiden Postulate zustande, mit denen Ségolène Royal in den vergangenen Wochen erstmals selbst Profil als mögliche Präsidentschaftskandidatin zeigen wollte. Die "verwundbarsten Schichten" der Gesellschaft hätten unter der Einführung der 35-Stunden-Woche gelitten, behauptet die Sozialistin hartnäckig. Die Verringerung der Arbeitszeit habe nicht wie erhofft neue Arbeitsplätze geschaffen, sondern größere Belastungen für wenig qualifizierte Arbeitnehmer, die plötzlich "flexible", also zerstückelte Arbeitszeiten in Kauf nehmen mussten. Ihr Beispiel: "Bei Michelin haben die Angestellten zusätzliche Urlaubstage bekommen, und die Arbeiter mussten auch noch am Samstag zur Schicht kommen." Die Partei schäumt vor Wut, schließlich ist im Entwurf des Wahlprogramms von einer "Ausweitung der 35-Stunden-Woche" die Rede. François Hollande, der Parteichef, versucht, behutsam zu korrigieren. Martine Aubry, die Arbeitsministerin der Regierung Jospin und Vordenkerin der Linken, verteidigt ihre Reform und kündigt vorsorglich ihre Bereitschaft zur Kandidatur um das höchste Staatsamt an.
Doch da lässt Ségolène Royal schon den zweiten Knallfrosch explodieren: Straffällig gewordene 16-Jährige sollen in neu einzurichtende militärische Besserungsanstalten gebracht werden, wo sie eine Ausbildung erhalten; Eltern von Grundschülern, die akut gegen die Schulnormen verstoßen, müssen einen Erziehungskurs absolvieren und eine Aussetzung des Kindergelds und anderer staatlicher Beihilfen hinnehmen. Die Linke sei auch für das "Militär", sagt Royal, Tochter eines Offiziers, zu ihrer Verteidigung.
"Ich sehe mich von rechts überholt", witzelt Innenminister Nicolas Sarkozy und kann nur schlecht verbergen, dass ihm die Aussicht auf einen Wahlkampf gegen die schwer berechenbare Sozialistin sichtlich Unbehagen bereitet.
Nach sechs Monaten versteckter Kandidatenkür, in der sie verwundert ihre Popularität wachsen sah, nach und nach offen über ihre Ambitionen sprach und einige Verbündete in der Partei fand - Julien Dray besonders, den linken Senator -, steht Royal in einer sonderbar anmutenden Distanz zu ihren nicht gar so lange zurückliegenden Jahren als Ministerin der Linksregierung von Lionel Jospin. Sie sei ja damals nicht sichtbar gewesen, heißt es nun zur Erklärung des "Ségo"-Hype in der Öffentlichkeit, die ihrerseits so tut, als habe sie eine neue Politikerin entdeckt.
Nicht sichtbar vielleicht, aber sehr wohl präsent. Ségolène Royal war sogar noch bei der letzten sozialistischen Regierung des früheren Staatschefs François Mitterrand dabei. Als Umweltministerin trat sie 1992 in das Kabinett von Premierminister Pierre Bérégovoy ein. 1997, nach der Rückkehr der Linken an die Macht, war sie beigeordnete Ministerin in Lionel Jospins Regierung - zunächst für Schul-, später für Familienfragen. Weit geht ihre Verbindung zu Mitterrand zurück, der ihr 1988 die Chance gab, ein Abgeordnetenmandat im Département Deux-Sèvres zu gewinnen. Tatsächlich war sie gleich nach Mitterrands Sieg 1981 als junge Mitarbeiterin im Elysée-Palast. "Bemerkenswerte Kompetenz im Dienst einer aufrichtigen Überzeugung", notierte seinerzeit Mitterrands Berater Jacques Attali. Das mag wohl unter den heutigen Umständen schon reichen - für eine Rückkehr in den Elysée-Palast.
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