Die Empörung nach dem Fund der Leichen in Racak war einhellig - und das Urteil unzweideutig, weltweit: "Das Massaker ist eine klare Verletzung der Verpflichtungen, die serbische Stellen gegenüber der NATO eingegangen sind", entrüstet sich US-Präsident Bill Clinton am 17. Januar 1999. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Bonn erklärt: "Die Verantwortlichen müssen wissen, dass die internationale Gemeinschaft nicht bereit ist, die brutale Verfolgung und Ermordung von Zivilisten im Kosovo hinzunehmen."
Tags zuvor hat der Leiter der Ende 1998 in die südserbische Provinz entsandten OSZE-Verifizierungsmission, William Walker, den Tatort besucht. Auch sein Urteil lässt kaum Zweifel: Mehr als 20 Männer seien "offenkundig dort hingerichtet worden, wo sie lagen". Es gebe Beweise für "willkürliche Verhaftungen, Tötungen und Verstümmelungen von unbewaffneten Zivilisten". Neben den 27 Männern, die außerhalb Racaks aufgefunden werden, zählt Walkers Team 18 weitere Leichen im Dorf selbst. Darunter eine Frau und einen Jungen.
Erst Monate später - die Bombardierung Jugoslawiens durch NATO-Kampfflugzeuge ist seit dem 24. März 1999 in vollem Gange - muss der deutsche Außenminister Fischer einräumen, was zwei französische Journalisten bereits unmittelbar nach dem Tod der 45 Kosovo-Albaner in Racak recherchiert haben: Hier wurde der Anlass gefunden für den in der US-Administration spätestens im Dezember 1998 gefassten Beschluss, in Jugoslawien militärisch zu intervenieren. "Racak war für mich der Wendepunkt", erklärt Fischer im Mai 1999 und damit zu einem Zeitpunkt, da Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne hat.
Wie viel tote Serben?
Auch ein halbes Jahrzehnt nach den für die Legitimierung des NATO-Krieges vorzugsweise gegen Serbien so entscheidenden Vorkommnissen in dem 25 Kilometer südlich der Protektoratshauptstadt Pris?tina gelegenen Dorf ist der damalige Tathergang weiterhin ungeklärt. Im Gespräch mit dem Freitag erklärt die finnische Pathologin Helena Ranta - Anfang 1999 am Ort des Geschehens Leiterin der EU-Untersuchungsmission - im Januar 2004: "Ich würde den Begriff Massaker weiter nicht verwenden, weil er bislang ungeklärte rechtliche Implikationen enthält. Die endgültige Beurteilung muss das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag treffen."
Das Büro von Chefanklägerin Carla del Ponte jedoch stützt sich in ihrer Anklage gegen Jugoslawiens Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic und vier seiner engsten Vertrauten weitgehend auf den von Ex-CIA-Mann Walker überlieferten Tathergang. Und das, obwohl Helena Ranta vor dem Haager Gericht im März 2003 aus ihren Zweifeln an der Walker-Version kein Hehl machte, auch wenn sie mit anderen Aussagen Milos?evic´ belastete. In Sachen Racak beklagte die Pathologin, dass beispielsweise die Zahl der in stundenlangen Gefechten mit Angehörigen der separatistischen Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK) gefallenen jugoslawischen Soldaten bis heute nicht bekannt sei. Selbst der damalige UÇK-Chef und heutige Vorsitzende der Demokratischen Partei des Kosovo (PDK), Hashim Thaci, erklärte Anfang 2000 in einem Interview mit der BBC, am 15. Januar 1999 habe "ein wilder Kampf" stattgefunden. "Wir hatten viele Opfer zu beklagen. Aber die Serben auch ..."
Ein Jahr später veröffentlichte das niederländische Fachmagazin Forensic Science International die abschließende Expertise des finnischen Expertenteams, in der ebenfalls keine Beweise für eine Massenhinrichtung kosovo-albanischer Zivilisten aufgeführt wurden. Unbeantwortet blieb außerdem die Frage, ob es sich nicht zumindest bei einem Teil der in Racak gefundenen Toten um UÇK-Kämpfer handelte, die von serbischen Sicherheitskräften erschossen wurden. Die deutsche Regierung jedoch ließ sich davon nicht im Geringsten erschüttern. "Aus deutscher Sicht gibt es keinen Anlass zu einer neuen Bewertung", erklärte ein AA-Sprecher, als im Januar 2001 Auszüge des Autopsieberichts vorab veröffentlicht wurden. "Dass das ein Massaker war, steht außer Frage."
Kein gesicherter Tatort
Neben der Tatsache, dass der angeblichen Massenhinrichtung von Racak in der propagandistischen Vorbereitung des Krieges gegen Jugoslawien erhebliche Bedeutung zukommt, ist die Klärung der Frage, wie die vor fünf Jahren aufgefundenen Toten ums Leben kamen, auch deshalb wichtig, weil es sich hier um einen zentralen Anklagepunkte im Milos?evic´-Prozess handelt. Ungeachtet aller Zweifel war in der von del Pontes Vorgängerin Louise Arbour noch während des Kosovo-Krieges im Mai 1999 vorgelegten Anklageschrift einseitig von "Mord an kosovo-albanischen Zivilisten" die Rede.
Die OSZE kam in ihrem Abschlussbericht vom Frühjahr 1999 zu analogen Schlussfolgerungen. Darüber hinaus seien die Opfer "aus extremer Nahdistanz erschossen" worden, hieß es - eine Version, der sich das von Ranta geleitete EU-Expertenteam trotz erheblichen Drucks aus Berlin nicht anschließen wollte. Und das auch später nie nachholte. Ranta heute: "Alles, was sich nach unseren Untersuchungen sagen lässt, ist, dass die Opfer wahrscheinlich zur selben Zeit starben."
Gegenüber dem Freitag erklärt die finnische Medizinerin, als sie kurz vor der offiziellen Präsentation erster Ergebnisse am 17. März 1999 - also genau eine Woche vor Beginn der NATO-Luftangriffe - OSZE-Missionschef Walker die von ihr persönlich verfasste Presseerklärung gezeigt habe, sei dieser "alles andere als begeistert gewesen". Kein Wunder: "Der erste entscheidende Schritt, den man bei der Sicherung eines Tatorts normalerweise erwartet, wären die Isolierung des Geländes und der Ausschluss unautorisierter Personen gewesen", war in dem bewussten Papier glasklar formuliert. "In Racak wurde nichts davon getan", erinnert sich Ranta heute.
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