Die Olympischen Winterspiele in Turin werden, nicht anders als die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer, von der Unterhaltungselektronikindustrie in schon bewährter Form genutzt, um medientechnische Neuerungen anzupreisen. Im laufenden Jahr sind es vor allem Flachbildfernseher und die HDTV-Norm (das hoch auflösende und durchgängig im Bildverhältnis 16:9 ausgestrahlte Fernsehbild). Der Aufsichtsratvorsitzende der Gesellschaft für Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik frohlockte schon 2005 mit Blick auf die Fußball-Weltmeisterschaft, dass "unser Land ... endlich Anschluss an die internationale Entwicklung" finden würde. Die WM wird also auch in dieser Hinsicht als nationales Infrastrukturprojekt für ein Land verstanden, das nicht nur in Sachen PISA erfahren musste, nicht mehr in allen Bereichen europäischer oder gar globaler Klassenbester zu sein.
Diese enge Verbindung des Sports mit dem Fernsehen nimmt Einfluss auf die Struktur und das Aussehen des Sports; die immer aufwändigere Medientechnik verändert das Verhältnis sowohl der Athleten als auch der Zuschauer zum Sport grundlegend. Die häufig getroffene Diagnose, es ginge beim Sport nur mehr um Kommerz und Spektakel, erfasst dabei aber nur die banaleren Aspekte dieser Entwicklung. Zum einen wird mit einer solchen Kritik am gegenwärtigen Sport ein vermeintlich besserer und "eigentlicher" Sport in die Vergangenheit projiziert, zum anderen ist der Abscheu vor Kommerz und Spektakel keine verlässliche Basis für eine fundierte Kritik am gegenwärtigen Sport in all seiner schillernden Komplexität.
Historisch ist die Entstehung des Sports, wie wir ihn kennen, im 19. Jahrhundert an Wett-Kämpfe (also kommerzialisierte Ereignisse), an volkspädagogische und häufig nationalistische Ertüchtigungskonzepte sowie an die Etablierung von Psychologie und Physiologie gebunden - keine Kontexte also, die den Sport als sinnentlastete Gegenwelt empfehlen könnten. Vor allem aber durchziehen Prozesse der Technisierung und Mediatisierung keineswegs nur die massenmediale Darstellung des Sports, sondern alle Aspekte und Teilbereiche sportlicher Praxis, von der medizinischen Betreuung über die Gegnerbeobachtung per Video bis hin zum Pausenprogramm in den Stadien. Die bekannten und gerne skandalisierten Beispiele, wie Regeln von Sportarten, Anstoßzeiten und selbst das Zuschauerverhalten den Wünschen derer angepasst wurden, die die Übertragungsrechte besitzen, lenken nur davon ab, dass jede Vorstellung von einem außer- oder vormedialen Sport schlicht naiv ist.
Wenn zur kommenden Weltmeisterschaft mit 25 Kameras pro Spiel noch einmal fünf mehr als vor vier Jahren eingesetzt werden, um somit - laut FIFA - taktische Varianten der Mannschaften, Reaktionen auf der Ersatzbank sowie einzelne Spieler systematisch ins Bild zu setzen, so hat dies tatsächlich wenig mit dem "eigentlichen" Spiel zu tun. Die erneute Steigerung der Produktionsmittel zielt darauf, die Allsichtigkeit des Fernsehens zu demonstrieren und das Fußballspiel in eine psychologisierende Erzählung von mimischen Affekten und körperlichen Emotionsäußerungen zu überführen. Darüber hinaus hat diese Mediatisierung aber durchaus Parallelen im "eigentlichen" Sport und ist Teil eines vielschichtigen Transformationsprozesses.
Längst ist das Training im professionellen Sport um Videoanalyse, digitale Datenbanken, Herzfrequenzen und Blutuntersuchungen herum strukturiert; längst ist der Besuch im Stadion ein durchmediatisiertes Ereignis. Moderne Fußballtaktiken sind ohne Videoanalyse von Gegnern und eigenem Spiel ebenso wenig denkbar, wie die Geschwindigkeit und Athletik des modernen Fußballs ohne wissenschaftlich und medientechnisch gestütztes Training. Der professionelle Sport ist ein hoch spezialisiertes Wissensgebiet, in dem die entscheidenden Erkenntnisse nicht mehr der Intuition von Genies, sondern dem systematischen Einsatz von Medientechniken zu verdanken sind. Das "Geniale" äußert sich in der Fähigkeit, nicht nur das Spiel, sondern auch Fernsehbilder und statistische Daten lesen´ zu können. Das Fernsehen finanziert diesen Professionalisierungsschub und hat Anteil an dessen Bildtechniken und Wissensbeständen.
Mit der Inszenierung des Sports als visuellem Spektakel in den Massenmedien geht nämlich - und dies muss kein Paradox sein - eine Aufwertung des Wissens vom Sport einher. Das hat auch damit zu tun, dass die Medientechniken, die eine Optimierung der sportlichen Leistung ermöglichen, sich mit denen des Fernsehen überschneiden. Die Zeitlupenwiederholungen, die digitalen Animationen und die Taktikgrafiken des populären Massenmediums lassen sich schon deshalb nicht auf den Status von Pseudo-Wissen reduzieren, weil es Verfahren sind, mit denen der Sport (etwa im Training) produziert wird. Für die Zuschauer zu Hause vor dem Fernsehapparat bedeutet das medientechnische Spektakel eine systematische Verwissenschaftlichung des Sports.
Ein Beispiel sind die Doppelbelichtungen beim alpinen Skisport: Nach dem Rennen werden die Läufe von zwei Fahrern in ein- und dasselbe Bild überblendet, so dass die Fernsehnutzer - unter Erläuterung durch einen "Experten" - sehen, worin sich die Körperhaltungen der Rennläufer unterscheiden, wer den Ski stärker verkantet, wer näher an den Stangen fährt. Das Fernsehen braucht solche Bilder, um die zunehmend geringeren Differenzen im Profisport überhaupt noch einsichtig und die Ergebnisse transparent zu machen - schließlich besteht ein wichtiger Zugewinn des Zuschauersports in der nachvollziehbaren Unterscheidung von Verlierern und Gewinnern. Genau dieselben Bilder werden aber von den Trainern benutzt, um ihren Athleten Fehler zu zeigen. Dass Fernsehmoderatoren zuweilen statt einer trainingswissenschaftlich exakten Sprache einen populistischen Jargon verwenden, ändert nichts an der Tatsache, dass den Zuschauern Unterschiede in einer Art und Weise sichtbar gemacht werden, die es ihnen nach nur wenigen Übertragungen ermöglicht, eigenständige und womöglich vom Kommentator abweichende Urteile zu fällen.
Noch brisanter wird diese Überschneidung von Massenmedium und visueller Erkenntnisproduktion, wenn mittels der Fernsehbilder über die Gültigkeit von Ergebnissen entschieden wird. Im Fußball gibt es zwar (im Gegensatz etwa zu American Football) keinen Videobeweis. Es gibt aber die Möglichkeit, dass etwa das Sportgericht des DFB im Nachhinein auf der Basis von Fernsehbildern Sportler für regelwidriges Verhalten bestraft, das vom Schiedsrichter nicht gesehen wurde. Außerdem führen die in den Stadien vorhandenen Großbildleinwände zu "versteckten" Videobeweisen, wenn Schiedsrichter mit einem Blick auf die dort gezeigten Bilder eine Entscheidung korrigieren. Die Medien entfalten Wirkung auf den Spielverlauf, selbst wenn das Regelwerk sie nicht vorsieht. Nicht immer lassen sich dabei eindeutige Erkenntnisse gewinnen. Nichtsdestotrotz sind solche Bilder in einen Prozess juristisch relevanter Erkenntnisproduktion eingebunden. Die dabei verwendeten Verfahren - Wiederholung, Zeitlupe etc. - sind Fußballfans durch ihren eigenen Videorekorder zugänglich (und Fußballforen im Internet zeigen, wie rege davon Gebrauch gemacht wird).
Die Mediatisierung des Sports ist ganz sicher keine Verfälschung eines ursprünglichen Ideals, sondern Teil fortlaufender Veränderungen dessen, was vom Sport sichtbar wird und welches Wissen wir über ihn haben. Dass die Mediatisierung somit keineswegs nur kommerzielles Spektakel, sondern zugleich eine solide Erkenntnismaschinerie hervorbringt, macht sie nicht "harmloser" oder gar "besser". Die Wissensproduktion im Sport ist (wie jede andere auch) an Vorannahmen und Fokussierungen gebunden, die das jeweilige Wissen erst plausibel machen: Nicht alles interessiert gleichermaßen, nur manches wird durch den technischen Aufwand der Beobachtung aufgewertet. Um Genauigkeit zu erzielen, muss in die untersuchten Gegenstandsbereiche eingegriffen werden und eine Auswahl potenziell relevanter Ereignisse stattfinden. Der Videobeweis im US-amerikanischen Basketball ist beispielsweise alleine dafür vorgesehen zu klären, ob der Ball beim letzten Wurf noch vor Ablauf der Spielzeit die Hand des Spielers verlassen hat. Die Kameras wurden entsprechend ausgerichtet, der Korb extra mit Leuchtdioden versehen, die am Ende der Spielzeit aufblinken. Ob ein Spieler bei seinem Wurf allerdings mit einem Fuß die Auslinie überschritten hat, wird durch keinen Videobeweis geklärt: Weder gibt es dafür besondere technische Vorkehrungen, noch sehen die Regeln ein Prüfen der Videobilder für diesen Fall vor. Unterschiedliche Spielsituationen haben unterschiedliche Wahrheitsqualitäten; jede zusätzlich aufgestellte Kamera schafft zugleich Zonen geringerer Aufmerksamkeit und Wertschätzung.
Für die Fernsehübertragung ist die Hierarchie der Berichterstattung weiterhin in erster Linie national strukturiert. So verkündet das ZDF beispielsweise auf seiner Homepage zu den Olympischen Winterspielen zurzeit stolz, dass es mit 38 eigenen Kameras vor Ort sein werde und dass diese Kameras unter dem "Stichwort Qualität und deutscher Aspekt" Einsatz fänden. Die Konsequenzen können auf der gleichen Seite begutachtet werden, wo nämlich das historische Wissen zu den letzten olympischen Winterspielen mit Archivmaterial gestützt wird, das gleich zweimal von einer euphorischen Moderatorenstimme mit dem Ausruf "Gold für Deutschland" begleitet wird.
Während die zunehmende Mediatisierung und Kommerzialisierung auf der einen Seite ein transnationales Wissen vom Sport produziert, weil "ausländische" Spitzenleistungen (wie etwa Spiele der italienischen oder spanischen Fußballligen) zugänglich und ihre Qualitäten einsichtig werden, wird das medial produzierte Wissen zugleich national hierarchisiert. Entsprechend soll die Fußball-Weltmeisterschaft nicht nur den deutschen Technikrückstand in Sachen HDTV und Breitbildfernsehen kompensieren, sondern Deutschland auch als Gemeinschaft synchronen Erlebens stärken. Wie andere Politiker hat der rheinlandpfälzische Ministerpräsident Beck die Arbeitgeber aufgefordert, den Arbeitnehmern die Möglichkeit einzuräumen, die Spiele der WM live mit verfolgen zu können. Die WM sei für Deutschland ein "Jahrhundertereignis", an dem "jeder Bürger teilhaben sollte". Bekanntermaßen hat die Politik entscheidenden Anteil daran, dass die Spiele der deutschen Nationalmannschaft im Free-TV (also nicht verschlüsselt) und dass kostenfreie Bilder der Bundesliga auch in Zukunft schon ab 18 Uhr zu sehen sein werden. Auch dies sind letztlich Beispiele dafür, dass der Sport mit zunehmendem medientechnischen Aufwand nicht in wildem Spektakel endet, sondern durch systematische Selektionsleistungen bestimmte Gegenstände - hier die Nation - ins Blickfeld rückt und aufwertet.
Dr. Markus Stauff ist Mitarbeiter am Forschungskolleg Medien und kulturelle Kommunikation an der Universität Köln.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.