Gerade mal ein Kilometer

Neue Rechte Am Samstag hat die „Identitäre Bewegung“ in Berlin demonstriert. Die Route führte durch den Stadtteil Gesundbrunnen – nicht ohne Grund

Über der Brunnenstraße im Berliner Wedding ist der Himmel blau. In das Sonnenlicht mischt sich das Gelb der Fahnen der „Identitären Bewegung“ (IB). Unter dem Motto „Zukunft Europa – Für die Verteidigung unserer Identität, Kultur und Lebensweise“ hat die Gruppierung am Samstag zu einer Demonstration aufgerufen. Sie wird der rechtsextremen Szene zugerechnet und vom Verfassungsschutz überwacht. Sie selbst betrachten sich als Demokraten, deren Stimme missachtet wird.

Auf der einen Seite der Brunnenstraße liegt der Volkspark Humboldthain. Von dort brüllen Gegendemonstranten: „Nazis raus“. Auf der anderen Seite lehnen die Anwohner in ihren Fenstern und blicken auf die gelbe Menge. Die meisten schauen ohne große Regung zu, wie die Demonstranten skandierend durch ihre Straße ziehen. Viele der unfreiwilligen Zuschauer bewahren Humor und winken dem „Volk“ zu, wie sich die Identitären selbst bezeichnen. Im Berliner Stadtteil Gesundbrunnen leben viele Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Demonstration findet nicht zufällig hier statt. Sie gilt ihnen, den Anwohnern, die nun an ihren Fenstern und auf ihrem Bürgersteig zuhören, wie die Menge „pro border, pro nation, no immigration“ ruft. Die Identitären bezeichnen sich als „Jugend ohne Migrationshintergrund“ und richten sich gegen die angebliche Überfremdung.

Die Demonstranten sind vornehmlich männlich, zwischen Mitte 20 und Mitte 30 mit akkuraten Frisuren, ordentlicher Kleidung, gerne auch bedruckten T-Shirts. Darauf steht „Festung Europa“ oder „Zukunft Europa – Heimat – Freiheit – Tradition“. Man kann sie im Online-Shop der Identitären kaufen. Ihr Marketing ist professionell, ihr Auftreten hip. Was sie so hübsch aktualisiert haben, ist im Kern dennoch völkischer Nationalismus. Es ist das alte Konzept von: Wir gegen die Fremden. Feindbild Nummer eins, zwei und drei sind Multikulturalismus, Islam und Einwanderung. Feindbild Nummer vier ist das Establishment: Politik und Medien.

Online groß, offline klein

Im Internet sind die Identitären schon länger präsent. Mit medienwirksamen Aktionen haben sie immer mal wieder für Aufsehen gesorgt. Zum Beispiel im vergangenen August, als Mitglieder das Brandenburger Tor besetzten. Trotz ihrer Onlinepräsenz ist die Gruppierung relativ klein. In Berlin sind es nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden gerade einmal 30 Personen. Im vergangenen Jahr haben an der Demonstration in der Hauptstadt lediglich 100 Menschen teilgenommen. Mit der diesjährigen Demonstration wollen die Identitären zeigen, dass sie eine echte Bewegung sind.

In einem Interview mit der Funke-Mediengruppe sagte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, die Bewegung habe sich schnell von einem virtuellen Phänomen „zu einer aktionistisch geprägten Organisation in der Realwelt entwickelt.“ Für ihre diesjährige Demo in Berlin haben sie europaweit mobilisiert. Angemeldet waren 1.000 Teilnehmer. Gekommen sind nach Angaben der Polizei mehrere hundert. Auf der Seite der Gegendemonstranten sind es weit mehr: 1400.

Zwischen den vielen Männern stehen immer wieder auch junge Frauen mit geflochtenen Zöpfen oder auch Frauen Mitte 50. Zwar ist die Mehrheit männlich, aber Frauen sind dennoch wichtig. Sie sind entscheidend, um das Feindbild zu zeichnen. Anlässlich des Frauentages etwa forderte die IB Österreich auf Facebook „das Ende der Masseneinwanderung und die Förderung der Remigration, denn: Frauen schützen heißt Grenzen schließen!“ Im selben Duktus spricht an diesem Samstag eine junge Frau auf dem Lautsprecherwagen. Sie zeichnet das Bild der Einwanderer, die sich an den deutschen Frauen vergreifen. „Nie zuvor haben wir uns zwischen so vielen Fremden befunden“, sagt sie. Und die gefährdeten die Sicherheit: „Ich erinnere mich an Zeiten, in denen wir selbstverständlich abends Fahrrad fahren konnten, in denen es keine Massenvergewaltigungen gab.“ Überall sieht sie Masseneinwanderung, Polizei, Gewalt. Und was machen Politik und Medien? „Sie warnen vor uns – nicht vor denen.“ Die Identitären sehen sich nicht als Bedrohung der demokratischen Ordnung, sie betrachten sich als Opfer, die von der Politik nicht repräsentiert und von den Medien ignoriert werden.

„Gelassener Widerstand“

Ein adrett zurecht gemachter junger Mann sagt freundlich in ein Mikro: „Das Problem ist, dass die Polizei immer wieder Störer durchlässt.“ Die Identitären geben sich nicht wie Rechtsextremisten, sondern wie junge Patrioten, die sich im hiesigen Schützenverein engagieren. Die Stimmung an diesem Samstag ist weit weg von Eskalation. Als die Demonstranten zu Beginn durch eine Absperrung müssen und einige Taschen kontrolliert werden, steht die Masse geduldig an. Die Ordner, die von der IB selbst abgestellt worden sind, gehen am Rand entlang und schlichten kleine Streitigkeiten mit Passanten. „Könnt ihr bitte hinter das Banner gehen?“, fragen sie freundlich. Dann bedanken sie sich.

In einer Analyse der IB für die Heinrich Böll Stiftung schreibt Micha Brumlik, dies sei eine Strategie der Rechtsintellektuellen: „Geht es ihnen doch um das Erreichen einer im Sinne von Antonio Gramsci geduldig anzustrebenden – so eine begriffliche Neuschöpfung Sellners – Politik des "gelassenen Widerstandes" zum Erreichen kultureller Hegemonie, einer Strategie freilich, die auch das Bündnis mit gewalttätigen Aktivist/innen nicht scheut.“

Genannter Martin Sellner ist einer der führenden Köpfe der Identitären. Er steht an diesem Samstag auf dem Lautsprecherwagen und stellt den nächsten Redner vor: „Wenn er nicht gerade auf Demos spricht, fährt er auf dem Mittelmeer herum und verhindert diesen NGO-Wahnsinn.“ An einem Fenster über der Menge steht eine Mutter mit ihrem Sohn. Der Kleine winkt herunter. Er weiß nicht, dass Sellner gerade angedeutet hat, dass man Geflüchtete, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten, nicht retten sollte. Dennoch inszenieren sich die Identitären als Kämpfer für die Gerechtigkeit. Eine Frau blickt nach oben zu den Bewohnern. „Da hängen sie an den Fenstern und die Obdachlosen finden keine Wohnungen“, sagt sie. „Ein Obdachloser bei mir um die Ecke wohnt sogar in einer Mülltonne“, ergänzt eine andere.

Die Identitären glauben an den nahenden Bürgerkrieg. Denn „Multikulti tötet“. So lautet einer ihrer Slogans, der in der Vergangenheit für Aufsehen gesorgt hat. Darum müssten sie die Gesellschaft wachrütteln. Wer an diesem Tag durch Berlin läuft, wird tatsächlich Zeuge der skizzierten Invasion des Fremden – allerdings anderer Art. Man schaut zu, wie brüllende Demonstranten, die aus ganz Europa angereist sein wollen, durch ein Wohnviertel ziehen und denjenigen drohen, die hier leben. „Guck mal, die ganzen Schleiereulen. Ist das furchtbar“, schimpft eine Frau mit Blick auf einige Bewohnerinnen mit Kopftuch.

Worum geht es den Identitären?

„Das ist unser Land!“, brüllt einer. „Abschieben!“, tönt ein anderer. Und dann alle im Chor: „Festung Europa – Macht die Grenzen dicht!“ Die Identitären glauben an durch homogene Kulturen gekennzeichnete Völker. Dabei betrachten sie die Bezeichnung „Nazis“, die aus dem Park schallt, als völlig daneben. Denn Rassismus weisen sie weit von sich. Sie betiteln sich lieber als Patrioten. Es gehe ihnen nicht darum, das eigene Volk für wertvoller als andere zu erachten, sondern darum, es in seiner „ethnokulturellen Identität“ zu bewahren, schreiben sie auf ihrer Webseite. Ihre Argumentation setzt nicht auf Angriff, sondern auf Verteidigung. „So gesehen handelt es sich bei der Ideologie der Identitären um einen defensiven Ethnonationalismus“, analysiert Micha Brumlik. Indem sie die Gleichwertigkeit aller Kulturen öffentlich betonten, gewännen sie argumentativen Raum, etwa um gegen Einwanderung und den "kultur"- und "raumfremden" Islam aufzustacheln, schreibt er weiter.

Ein paar Blocks weiter streitet sich ein Demonstrant der IB mit einem Bewohner über die Köpfe der Polizisten hinweg. Der Identitäre ist aus Polen angereist. „Ich habe nichts gegen Ausländer“, meint er, „aber wenn ihr nach Polen kommt, dann...“, setzt er an. Der Anwohner fasst in seine Hosentasche und zückt seinen Pass. „Ich bin deutscher Staatsbürger, Mann. Wenn ich nach Polen fahren will, dann mache ich das.“ Seinen Namen möchte er nicht nennen. Er und seine Freunde, die sich die Demo vom Bürgersteig vor ihrem Haus ansehen, sind alle in Deutschland geboren. Wie ist das für sie? „Besser als jede Bill Cosby Show“, sagt er. Hat er keine Angst? „Nein. Weißt du, wovor ich Angst hatte? Dass die Anwohner sich wehren. Es wäre doch ein Leichtes, Flaschen aus den Fenstern zu werfen.“ Darum haben sie vorher mit den Leuten im Kiez gesprochen. „Die Demonstranten sollen so wenig Aufmerksamkeit bekommen wie möglich.“ Hat er das Gefühl, die Demo richte sich gegen ihn und seine Freunde? „Das ist doch kein Gefühl. Natürlich geht das gegen uns.“ Er lacht den Stress weg. Dann brüllt es wieder aus der Menge: „Abschiebung! Abschiebung!“

Schon nach knapp einem Kilometer werden die Identitären durch eine Sitzblockade von Gegendemonstranten gestoppt, so dass sie nach gut drei Stunden die Demonstration beenden. Auf Facebook erklären sie dennoch, die Demonstration sei ein Erfolg gewesen.

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