Mehr als Metal

Eventkritik Die Welt zu Gast im Problem-Kiez? Die ehemalige ostdeutsche Farbfilmfabrik in Berlin-Marzahn ist heute „der größte Proberaum Europas“ - und Ort eines Musikfestivals

Das ORWOhaus in der Frank-Zappa-Straße sieht aus wie ein Plattenbau. Von den anderen Plattenbauten hier in Berlin-Marzahn unterscheidet es sich nur durch rote Fensterrahmen und den blechernen Sound, der aus dem Erdgeschoss dröhnt. Vor der Wende war das Haus der Standort des ostdeutschen Film-, Tonband- und Kassettenherstellers „ORWO“ (Original Wolfen). Heute ist es „der größte Proberaum Europas“, so steht es zumindest auf der hauseigenen Webseite. Der Betonklotz wurde vom besetzten zum legalen Hausprojekt umgebaut. Ein Beispiel dafür, wie die kreative Umnutzung eines Gebäudes funktionieren kann.

Mit Metal- und Hiphop-Konzerten, mit Halfpipe und Cocktailstand findet nun das fünfte „ORWOhaus-Festival“ hier statt. Es gibt alles, was man für ein bisschen Urban Culture braucht. Die meisten Gäste kommen aber direkt aus Marzahn, die überwiegende Kleidungsfarbe ist schwarz, viele tragen Schuhe mit Stahlkappen.

„Ist doch gar nicht so hässlich“

Melanie Meier, 38, ist mit ihrer Familie aus Treptow gekommen, weil sie in der Zeitung von einer legalen Sprayer-Wand gelesen hat. Gegen ihren älteren Sohn läuft zurzeit eine Anzeige wegen Vandalismus. Sie will nun dem jüngeren, dem 12-jährigen Max, eine Gelegenheit zum legalen Graffitisprayen geben. Acht Quadratmeter zwischen zwei Türen darf er verschönern. „Marzahn hat ja echt’n Scheißruf, aber so hässlich ist es gar nicht“, sagt sie und nippt an einem Filterkaffee.
Ein paar mehr Besucher hätte sie den Veranstaltern gewünscht, aber diese Gegend zieht nach wie vor kaum Berliner an. Da helfen auch Knorkator nicht. Die Spaß-Krawallrocker, die einst Anspruch an der Grand-Prix-Vorentscheidung teilnahmen, waren als Stars angekündigt. Ihr Auftritt wird dann in letzter Minute abgesagt – wegen „terminlicher Differenzen.“
Das Haus lebt von der Vermietung der 200 Proberäume und Studios auf rund 4.000 Quadratmetern.

Silbermond waren hier Mieter, die Ohrbooten sind es noch. Die Warteliste der Bands ist lang, weil trockene, beheizte Räume, in denen man laut sein kann, in Innenstadtbezirken wie Kreuzberg oder Friedrichshain für die meisten inzwischen unbezahlbar sind. In der „lautesten Platte Marzahns“, wie die Macher das ORWOhaus stolz nennen, sind die Mieten erschwinglich und es beschwert sich kaum jemand über Ruhestörung. Das Haus ist wirtschaftlich erfolgreich: Es schreibt mittlerweile schwarze Zahlen, bis dahin war es aber ein langer Weg.

Andreas Otto, 27, ist ein Mann der ersten Stunde. Als der Schlagzeuger 2003 ins ORWOhaus kam, standen im Erdgeschoss noch Pappkartons mit chinesischen Plastikblumen bis an die Decke gestapelt. Die Reste der Farbfilmmaschinen waren gerade verkauft. Nach dem Leerstand in den neunziger Jahren war die Hälfte der Gebäudefläche als Lager an Import-Export-Firmen vermietet worden. Verwaltet wurde der Bau wie alle volkseigenen Betriebe damals von der Treuhand.
Mit seinen Musikerkollegen mietete sich Otto einen der Räume und baute ihn zum Proben aus. Mit Dämmung an den Wänden, einem gemütlichen Sofa, Verstärkern – Rockerinventar. Ein paar Monate später kam der Schock: Feuerwehr und Bauamt stellen Brandschutzmängel fest, woraufhin die Treuhand die Mietverträge von heute auf morgen kündigte. Die Lager waren schnell geräumt, aber Otto fühlte sich übergangen.

Die Musiker blockierten aus Protest die sechsspurige Ausfallstraße vor dem Haus. Die Polizei räumte zwar nach einer knappen halben Stunde, aber der Stau reichte bis zur nächsten Autobahn. Heute sagt Otto, ihm tue die Aktion in Hinblick auf die unschuldigen Berufspendler fast ein bisschen leid. „Aber wir waren verzweifelt – und Aufmerksamkeit hat es gebracht.“ Der damalige Kultursenator Thomas Flierl unterstützte die Gründung des Vereins. Mit Geduld, Verhandlungsgeschick und Glück bekam der ORWOhaus-Verein einen Kredit und kaufte das Haus für 150.000 Euro.
Die Stadt und private Unternehmen beteiligten sich am Ausbau, sonst wären die notwendigen Umbauten nicht möglich gewesen. Heute sind die langen Flure mit Brandschutztüren versehen und die Brandmelder mit extra Blinklichtern ausgestattet, denn Sirenen würden die Musiker während der Proben kaum hören.

Das Projekt als Vorbild

Geoffrey Vasseur ist seit 2005 dabei. Er ist 29, Gitarrist einer Dub-Band und kam als ein Mieter ins ORWOhaus. Inzwischen ist er im Vorstand aktiv. Er organisiert das Festival, lädt die Bands ein, stellt das Line-Up auf, macht Werbung und PR. Er kann von seiner Arbeit für den Verein mittlerweile leben, anders als viele andere Kreative hier von ihrer Musik. Neben dem Hausmeister hat er die einzige Vollzeitstelle, dafür hat er seine langjährige Tingelei in der Entwicklungshilfe aufgegeben.
Für Vasseur könnte der Andrang an diesem Samstag auch größer sein, das Festival ist die Krönung seiner Arbeit. Er springt lässig auf die Bühne und kündigt „Treffpunkt X“ an. Die sechsköpfige Band rappt und singt zu gemütlichen Basslines. Nach und nach stehen manche der vor dem Haus im Gras sitzenden Zuhörer auf und bewegen sich lässig zur Musik.

Das ORWOhaus ist Vorbild in einer Stadt, in der Industriebrachen immer wieder in neue kreative Inseln verwandelt werden sollen. Das Kulturprojekt hat in Marzahn seinen Platz gefunden. Es hilft damit auch, das für viele noch trostlose Image dieses Ortes ein wenig zu ändern. Hier wird nicht nur ein leer stehendes Gebäude mal eben zwischengenutzt und schnell wieder aufgegeben, sondern es ist ein langfristiges Unterfangen.

Man hört viel Heavy Metal an diesem dennoch familientauglichen Abend. Ein paar BMX-Fahrer hängen lässig im Liegestuhl, andere zeigen Drehungen in der Halfpipe. Max aus Treptow hat seine Sprühdosen mittlerweile wieder eingepackt. Er sagt, er wolle nächstes Jahr wiederkommen.

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