Jenseits der Nachrichten

Videoblog Vier Palästinenserinnen dokumentieren auf Youtube ihren Alltag. Sie nehmen die Zuschauer mit in den Zoo, auf Partys – oder zu Protesten gegen israelische Soldaten

Sie haben eine Botschaft und die Welt soll sie hören: „Wir sind ganz normale Menschen“, sagt Ashira Ramadan energisch. Fast schreit sie den Satz. Dann schlägt die junge Frau mit den schulterlangen, schwarzen Haaren mit der flachen Hand auf den Tisch. „Wir sind nicht nur Terroristen, oder Zahlen in den Nachrichten.“

Um der Welt ihre ganz persönliche Wahrheit zu zeigen, hat sich die 25-jährige Palästinenserin als Protagonistin für ein Videoprojekt beworben. Vier junge Frauen aus Ostjerusalem, dem Westjordanland und dem Gazastreifen zeigen seit dem 1. März ihr Leben als Videotagebuch auf Youtube. Sie gehören zur gebildeten palästinensischen Mittelschicht, haben zum Teil im Ausland studiert. Nur eine trägt ein Kopftuch. In den Folgen sprechen sie Englisch und wollen damit erreichen, dass die Menschen rund um den Globus verstehen: Wir sind genau wie ihr!

Täglich außer freitags dokumentieren die Frauen ihren Lebensalltag. Um Politik geht es dabei nur indirekt. „Wir filmen, was wir tun und zeigen es im Internet“, erklärt Ala’ Khayo Mkari aus Bethlehem. Doch weil die Protagonistinnen unter israelischer Besatzung leben, spielt Politik auch in den alltäglichsten Dingen ihres Lebens eine Rolle. Die Begriffe „Kampf“ und „Leid“ fallen fast in jeder Episode, verbunden mit dem Wunsch, das Ausland, der Westen, möge sich dafür interessieren und begreifen, welches Unrecht den Paläsinensern geschieht. Es geht um lange Wartezeiten am Checkpoint, Lohngefälle zwischen Israel und dem Westjordanland, um national-religiöse jüdische Siedler, die die Häuser von arabischen Flüchtlingsfamilien in Ostjerusalem für sich beanspruchen.

Nicht nur Schwierigkeiten

Das Videotagebuch erzählt von Familien im Gazastreifen, die nach wie vor in Zelten leben, weil ihre Häuser während des Kriegs zerstört wurden. Und vom Schmuggel, denn alle Güter müssen in den Gazastreifen durch Tunnel von Ägypten ins Land gebracht werden, weil Israel die Grenze abgeriegelt hat. Doch anders als die Nachrichtensendungen der ausländischen Medien, zeigen die vier Frauen ihre Version der Dinge. Und sie zeigen auch, dass es neben all diesen Schwierigkeiten noch mehr in ihrem Leben gibt, nämlich Kunstausstellungen und Theaterstücke, Freunde und Vergnügen, Graswurzelbewegungen jenseits von Hamas und Fatah, die sich bemühen, von unten eine funktionierende Zivilgesellschaft aufzubauen.

Ashira Ramadan sitzt mit ihren Kollegen in einem kleinen, aber modernen Büro im obersten Stockwerk eines neu gebauten Bürokomplexes in Ramallah, der vorläufigen Hauptstadt der Palästinenser im Westjordanland. Das Gebäude ist noch nicht ganz fertig. Kabel und Rohre stehen aus der Wand, in den unteren Etagen arbeiten die Handwerker. Die Crew ist trotzdem schon eingezogen. Gerade warten sie auf das Bildmaterial aus Gaza. Es muss übers Internet überspielt werden, denn das Team in Gaza kann das von Israel abgeriegelte Gebiet nicht verlassen. Vor Ashira und den anderen liegt eine lange Nacht. Wie jeden Tag seit Beginn des Projekts müssen sie bis zum Morgengrauen eine Episode des Videotagebuchs Sleepless in Gaza and Jerusalem schneiden, vertonen und die nicht englischen Teile untertiteln. Ein Drehbuch für die Serie gibt es nicht. „Die Mädchen entscheiden von Tag zu Tag, was sie drehen möchten und wir folgen ihnen dann“, erklärt die 29-jährige Produzentin Samar Stephan.

Regieanweisung übers Telefon

Über 30 Folgen hat die Crew bislang online gestellt. Insgesamt sollen es neunzig Episoden werden. Jede Folge ist zweigeteilt. Erst berichten Ashira oder Ala’ aus Ostjerusalem oder dem Westjordanland, dann zeigen Nagham Mohanna und Berlanti Azzam, genannt Betty, Ausschnitte aus dem Leben im Gazastreifen. Regisseur Ramzie Khoury kann mit den Mädchen in Gaza nur übers Telefon sprechen. Ein Grund, sagt er, warum die Qualität der Folgen aus Gaza deutlich schlechter sei.

26 Minuten dauert jede Episode. Die Kamera lässt sich Zeit. Oft sieht man minutenlang nur Bilder, unterlegt mit arabischer Musik, ohne Dialoge, ohne Handlung. Eine ungewohnte Ruhe für Augen, die schnellgeschnittene Clips gewohnt sind. Und natürlich auch ungewohnt viel Zeit, für die alltäglichen Belange der Palästinenser. Wir sehen so banale Dinge, wie Ala’, die in Ramallah über den Markt schlendert und die Preise für frisches Obst und Gemüse vergleicht, und Ashira, die sich morgens unter großem Tamtam von ihrer Mutter verabschiedet und ihrem kläffenden und Pullover-tragenden Schoßhündchen Ozy die Leine anlegt.

„Die meisten Menschen sehen fast täglich Palästinenser in den Nachrichten“, sagt Regisseur Khoury. „Aber Nachrichten zeigen nur ausgewählte Ereignisse, nur das, was mit Politik und Sicherheit zusammenhängt.“ Die Serie sei dagegen ein Fenster zur palästinensischen Realität, so Khoury. „Auch wir Palästinenser lachen und weinen, lieben und kämpfen.“ Und so nimmt uns Betty mit in den Zoo von Gaza, in dem ein ziemlich trauriger Löwe, der ebenfalls durch die Schmugglertunnel kam, sein Dasein hinter bunt gestrichenen Gitterstäben fristet und ein weißer Esel, der mit schwarzen Streifen angestrichen wurde, als Zebra herhalten muss.

An einem anderen Tag sehen wir eine sichtlich benommene Ashira, die durch Tränengas in der Jerusalemer Altstadt irrt. Es ist Freitag, der Feiertag der Muslime und um den Tempelberg herum herrschen kriegsähnliche Zustände. Die Menschen um Ashira husten vom Tränengas der israelischen Armee, der Boden in der Altstadt ist bedeckt mit losen Pflastersteinen. Ashira berichtet von israelischen Soldaten, die die Al-Aqusa-Moschee gestürmt und mit Gummigeschossen auf die Betenden gefeuert haben sollen und zeigt vermummte, junge Araber, die mit Steinen nach den Soldaten werfen und die Überwachungskameras in der Altstadt zertrümmern. Indem sie uns einlädt, ihr auf ihrer planlosen Suche nach Informationen durch die Altstadt zu folgen, zeigt sie uns ganz nebenbei, wie die Nachrichten, die wir aus der Region zu sehen bekommen, täglich entstehen.

Ausgedacht hat sich das Konzept für die Sendung Abdallah Schleifer, Journalist und Medienwissenschaftler in Kairo. Für Schleifer ist die Serie ein Beitrag zum Friedensprozess im Nahen Osten. „Die Perspektive, die durch Nachrichten transportiert wird, hat Barrieren geschaffen, die das Verständnis zwischen Israelis und Palästinensern behindern“, sagt Schleifer. „Die meisten Amerikaner und sogar die meisten Israelis kennen Palästinenser nur als Karikatur aus der Berichterstattung.“ Die Palästinenser würden in der Berichterstattung nicht als Menschen dargestellt, sagt Schleifer, sondern entweder als passive Opfer oder als Terroristen.

Israelis gibt’s nur als Klischee

Dass auch Palästinenser ihren vermeintlichen Feind, die Israelis, nur in stereotypen Rollen kennen, offenbart der Videoblog dabei eher unfreiwillig. Israelis werden dort ausschließlich in jenen klischeebehafteten Rollen gezeigt, die die Macher der Sendung bei der Berichterstattung über Palästinenser beklagen. Ihnen bleibt die Rolle des Soldaten, des Polizisten und des national-religiösen Siedlers vorbehalten – die Rollen, die die Besatzer im Leben der Palästinenserinnen spielen.

Die vier Protagonistinnen haben Regisseur Khoury und Ideengeber Schleifer mit Bedacht ausgewählt: Zwei der vier Palästinenserinnen sind Journalistinnen. Ashira Ramadan hat beim palästinensischen Sender Palestine TV ihre eigene Sendung. Sie berichtet ohnehin aus Ostjerusalem. In den meisten Folgen begleitet sie die Filmcrew also einfach bei den TV-Drehs. Die 24-jährige Nagham Mohanna aus Gaza ist Journalistin und Dokumentarfilmerin. Auch sie wird von der Filmcrew häufig bei täglichen Recherchen begleitet. Die beiden anderen Frauen sind keine Muslima, sondern christliche Araberinnen. Weil die Macher mit dem Projekt ein möglichst breites Publikum erreichen wollen, haben sie die christliche Minderheit miteinbezogen.

Auch dass alle vier weiblich sind, ist kein Zufall. „Unter den Palästinensern wurden besonders die Frauen bisher immer sehr stereotyp dargestellt“, kritisiert Medienwissenschaftler Schleifer. Man sähe sie als weinende Opfer, die klagten, weil ihr Haus zerstört wurde – oder als Mütter von zu Märtyrern erklärten Selbstmordattentätern. Und Produzentin Samar Stephan fügt an: „Bisher haben wir fast immer nur Männer in den Medien gesehen.“ Besonders dann, wenn es um Kriegsberichterstattung gehe.„Wir wollen ungewohnte Bilder zeigen.“

Und so sieht man nun in der Serie wie Nagham in rosa Jacke und farblich passendem Kopftuch unter viel Gekreische in die Tunnel zwischen dem Gazastreifen und Ägypten hinabsteigt, um die Schmuggler zu interviewen und wie Ala’ an der Universität von Bethlehem eine Vorlesung über Geschlechterfragen besucht, um anschließend mit der Dozentin und anderen Studenten über häusliche Gewalt, weibliche Selbstermächtigungsstrategien und Gender Mainstreaming zu diskutieren.

Auf der Party in Ramallah

Während einige Folgen ziemlich gestellt wirken – nicht zuletzt deshalb, weil die vier Araberinnen Englisch sprechen müssen –, gibt es aber immer wieder auch Momente, die einen authentischen Einblick in das Leben der Frauen gewähren. Etwa als Ashira die Zuschauer mitnimmt auf eine Party in Ramallah. Dort trifft sie eine alte Schulfreundin. Als die beiden mit Hündchen Ozy eine Runde ums Haus gehen, scherzen sie darüber, warum sie sich so selten sehen: Während Ashira, die in Ostjerusalem wohnt, das Westjordanland verlassen darf, kann ihre Freundin die israelischen Checkpoints nicht passieren. Als Palästinenserin aus Ramallah hat sie für Israel keine Zugangsberechtigung. Während sie Ashira früher oft besucht hatte, geht das heute nicht mehr.

Dann hat Ashira genug vom Filmen und auch das nimmt man ihr ab: „Ich geh jetzt wieder rein und ihr könnt sonst was machen“, sagt sie und verscheucht die Fernsehcrew, die ihr seit Wochen jeden Tag folgt wie eine lästige Fliege. „Letzte Nacht habe ich sogar geträumt, dass die Filmcrew neben meinem Bett steht“, erzählt Ashira im Büro in Ramallah. „Sie sind immer bei mir“, sagt sie. „Sogar im Schlaf.“

Die Folgen des Videoblogs Sleepless in Gaza and Jerusalem sind unter youtube.com/user/SleeplessinGaza zu sehen. Finanziert wird die Sendung von einer angeblich unabhängigen Stiftung in Abu Dhabi, die ihre Identität aber nicht preisgeben will. Geht es nach den Machern der Sendung, einer Produktionsfirma mit Sitz in Ramallah, sollen die Folgen auch bald im Fernsehen gezeigt werden. Deshalb sind die Episoden auch von Beginn an auf die Länge einer Fernsehserie ausgelegt. Man stehe mit mehreren Sendern in Verhandlungen, es sei jedoch noch nichts spruchreif, sagt Regisseur Ramzie Khoury. Auch auf verschiedenen Filmfestivals sollen die Folgen bald laufen, unter anderem in Dubai und Ägypten. Darüber hinaus sind wegen der hohen Nachfrage arabische Untertitel geplant.

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