In der Freitag-Serie zu den Perspektiven der Linken in Deutschland fragte der Berliner Soziologe Wolfgang Engler im Freitag 5/2008 danach, wie die vielen kleinen politischen Meinungen der Menschen und die ganz große politische Orientierung zusammenhängen. Der Frankfurter Publizist Mario Scalla versuchte im Freitag 7/2008 die Umrisse eines neuen linken Projekts zu skizzieren, das die kritischen kulturellen Ansätze der neunziger Jahre weiterentwickelt. Der Hamburger Philosoph und Sozialwissenschaftler Roger Behrens plädierte im Freitag 13/2008 für eine Linke, die über das bestehende System hinausdenkt. Der Frankfurter Publizist Wilhelm von Sternburg warnte dieselbe Linke im Freitag 17/08 vor Populismus. Und in unserer neusten Folge fordert die Wiener Schriftstellerin Marlene Streeruwitz von ihr, eine neue politische Sprache zu entwickeln.
Eigentlich. Eigentlich sitzen wir alle in einer Filmvorführung. Da sitzen wir gemeinsam und bekommen einen Katastrophenfilm zu sehen. Wir bekommen uns zu sehen. In kleinen Schlauchbooten schaukeln wir auf einer weiten Wasserfläche. Das Wasser scheint ruhig, und kaum eine Strömung ergibt eine Richtung. Das Wetter ist wunderbar. Eine Idylle.
Als geübte Katastrophenfilmbetrachter wissen wir, dass irgendwo am Horizont dieses stillen Wassers der tobende Wasserfall wartet. Der Absturz in die Tiefe. Aber solange wir den Film als Betrachter aus dem Kinosessel sehen können, ist es unmöglich, den Absturz zu orten. Und. So lange wir im Kinosessel zusehen, betrifft die Gefahr ja ohnehin nur die, die da im Film auf den Wasserfall zutreiben. Angst kann da in aller Ruhe abgespalten werden. Katastrophenfilme sind genau dazu da.
Den Wasserfall dann, den entlang die kleinen Boote so tief hinunterstürzen müssen. Wenn wir den erleben, dann hat es uns selbst betroffen. Erst in der Katastrophe werden wir kurz zu Mitspielern und Mitspielerinnen. Aus dem Kinosessel herausgerissen, werden wir kurz selbst Darsteller des Sturzes. Danach sind wir verschwunden. Unsichtbar und unerhört sind wir vom Absturz selbst verschlungen. Wie ein mittelalterliches Monster verschluckt uns die Katastrophe und lässt uns von allen getrennt sprachlos zurück. Das Nachspiel ist dann eine reine Versicherungsfrage. Welche Selbstvorsorge haben wir vor dem Zusehen im Kinosessel getroffen und welche Selbstführung wird uns welches Weiterleben erlauben. Oder nicht. Weil der Film vom großen weiten idyllischen Teich, auf dem die Schiffchen so gemütlich schaukeln, nur noch die Geschichte seiner Betrachter bestätigt, gibt es darin keine Erkenntnis. Nur der Zustand der Bestätigung soll da vermittelt werden.
Dieser Film läuft, so lange der Profit stimmt. Wir dürfen so lange im Kino sitzen, so lange wir in den Plan des Profits passen. Würden wir nun des Kinos verwiesen, dann wüssten wir wenigstens den Ort, der uns verboten wird. Wir könnten in nationalistisch territorialer Manier die Eroberung dieses Orts versuchen. Das bleibt uns verwehrt, weil wir in den Film hineingezogen, hinter der Filmproduktion ausgespuckt werden und so gar nicht wissen können, wohin wir geraten sind. Der Absturz bringt die Abgestürzten in eine völlig andere Dimension. Da ist dann zwar jene Erkenntnis möglich, die beim Betrachten der Filmidylle nicht möglich ist. Ja. Der Absturz selbst ist schon Erkenntnis. Aber durch den Transport in die Dimension des Abstiegs ist jede Kommunikation mit den im Kino sitzenden, noch nicht Abgestiegenen unmöglich. Deutlicher als je zuvor ist die Folge von Anfang und Ende, Leben und Tod als kulturstiftende Grundstruktur aufgenommen.
Es liegt in der Natur des Profits, eine Illusion von Unendlichkeit und Wohlgefühl zu verbreiten. Die Medien haben mit Profit als Ziel in der Verbreitung dieser Botschaft den Versprechungsteil der kirchlichen Predigt übernommen. Die Verdammung ist der Erkenntnisfähigkeit jedes und jeder einzelnen überlassen und es besteht keine Gefahr, dass Erkenntnis daraus die Wege des Profits stören könnte. Erstens werden alle Maßnahmen getroffen, kritischem Denken den Geldhahn abzudrehen. Und zweitens wirkt ja diese oben beschriebene Dimensionalsperre gegen den Eintrag von Erkenntnis in die zweidimensionale Medienunöffentlichkeit. Die Erkenntnisträger und Erkenntnisträgerinnen sprechen in ihrer Dimension eine andere Sprache, die von den Noch-Kinositzern nicht einmal gehört werden kann.
Für die Politik bedeutet dieser Zustand der Dinge, dass es nur Sinn macht, die Filmidylle zu verstärken. Eingeführte politische Parteien haben sich in ihren Wahlkampfversprechungen selbst zu Geiseln dieser Filmillusion gemacht. Eingeführte politische Parteien können mittlerweile den drohenden Wasserfall gar nicht mehr erkennen. Eingeführte politische Parteien sind längst selbst zu den Zuschauern im Kino geworden und müssen sich selbst die Daumen halten, dass die Ahnung von der Katastrophe sich auch diesmal nicht in Wirklichkeit wendet. Wenn dann eine eingeführte politische Partei doch in den Absturz gerät, dann muss alles aufgewendet werden zu behaupten, diese Partei segelte immer noch oben auf dem glatten Wasser bei blauem Himmel und Vogelgezwitscher dahin. Lügen und Vortäuschungen müssen aufgewandt werden, sich in die Idylle zurückzuphantasieren. Das ist mittlerweile politischer Alltag.
Es gibt auch einen anderen Weg. Es gibt immer die Möglichkeit, den Profit affirmierend, zum Produzenten des Katastrophenfilms aufzusteigen. Als im Jahr 2000 in Österreich die Rechte die Politik übernahm, passierte genau das. Seither ist Österreich das besteingewiesene Land der neuliberalen Verwirtschaftlichung. Mein Wissen über den Absturz im hinter dem glatten See lauernden Wasserfall ist die Folge der Erkenntnisse, die diese Politik möglich gemacht hat. Eine der bittereren Erkenntnisse aus den damaligen Ereignissen ist die Reaktion der EU. Der deutsche Bundeskanzler Schröder führte eine Gegnerschaft gegen diese rechte Regierung in der Verteidigung seiner eigenen Idylle an. Das waren keine reinen politischen Herzen, die für Österreich die Demokratie in einem kritischen Geist erhalten wollten. Das waren Politiker von eingeführten Parteien, die gerade dabei waren, den Abstiegskampf zu verlieren. Mit der unüberlegten und nur kurz haltbaren Intervention konnte das eigene Überlaufen zum Profit maskiert werden. Danach blieb eine nachhaltig gefestigte rechte Politik zurück. Schröder verwirtschaftlichte sich dann ja gleich selber. Konsequenter kann es nicht sein.
Was an diesem Beispiel schon deutlich wird. Gegnerschaft gegen eingeführte Politik muss auf alles von eingeführter Politik verzichten, um überhaupt Gegnerschaft entwickeln zu können. Nur das reinste Herz, das die Erkenntnisse des Absturzes auch ertragen und damit verarbeiten kann, ist in der Lage, zunächst einmal eine Analyse vorzulegen. Das Geheimnis unserer Zeiten ist doch, dass die Analyse moralisch erfolgen muss, weil sie in die Kritik die Kriterien dieser Kritik integrieren muss, um die Zustände sichtbar machen zu können, die diese Kriterien außer Kraft gesetzt haben.
Eine neue politische Gruppierung hätte also die Existenz des Wasserfalls zu enthüllen und hätte die Sprache der Abgestürzten zur Verfügung. Die Frage wäre, wie ein Filmbild, das Personen verschlucken kann, realistisch zu schildern ist. Eine andere Frage wäre, wie die Vielgestaltheit der Abgestürzten und die vielen persönlichen Sprachen des persönlichen Schicksals zunächst einander verständlich gemacht werden können und welche Gesamterzählung daraus entwickelt wird. Beide Fragen sind nur literarisch künstlerisch zu meistern. Wie insgesamt die Analyse der Dinge des Lebens nur noch literarisch künstlerisch gelingen kann.
In Entdichtung und Verdichtung können Informationen so versprachlicht werden, dass Erkenntnis außerhalb des Eigenerlebens sichtbar wird. Literatur ist das einzige vieldimensionale Medium, das eine Darstellung der Erkenntnis möglich macht, die sich nicht mit einer Vermittlung begnügen muss und sich damit in die Medienlandschaft einpasst. Der Roman wäre also eigentlich das grundlegende politische Instrument einer neuen politischen Sprache, weil in ihm die Vielgestaltheit und Gleichzeitigkeit der epistemischen Dinge zur Erscheinung gebracht werden kann. Und es wäre die Suche nach einer Autor/Autorinnenposition, die die Politik erzählen könnte und in einer solchen Erzählung Möglichkeiten von Politik schaffen. Warum ist das aber nun nicht so?
Politik ist meist doch nur die Maskierung des Rettungsversuchs, auf die Seite des Profits zu kommen. Selbstrettungen sind das, die dann ja auch in Abgeordnetenpensionen ein gutes Ende finden. Darin ist das System selbst schon verzerrend. Es sollte schon aus ästhetischen Gründen nicht möglich sein, aus der Verdammung der anderen zum Absturz über den Wasserfall sich nun selber diesen Absturz ersparen zu können und sich zu bereichern.
Aber geht es nicht genau darum. Könnte eine neue politische Gruppierung in das Abenteuer der Erkenntnis aufbrechen? Gäbe es die reinen Herzen, die ohne Vorurteile und persönliche Beschränkungen die Analyse dessen, was ist, vorlegen können und darin den ersten Schritt eines Politischen neu machen. Und wäre es dann zu schaffen, aus der Erhaltung der Vielgestaltheit ein Gemeinsames herzustellen. Die alte Metapher der Aufklärung als Hinaussegeln auf unbekannte Meere kommt einer in den Sinn. Wir sind in dieser anderen Dimension der Erkenntnis wieder zurück auf Punkt eins. Und warum sollte das derzeit erzwungene Einzelkämpferdasein der Abgestiegenen und der Erkenntnisbegehrenden die unvermeidlichen Kompromisse eines Zusammenschlusses eingehen. Wenn es täglich um die eigene Emanzipation vom System des Profits und den daraus resultierenden Verachtungsstrukturen geht. Warum sollte eine dann auch nur ein Jota weniger Menschenrechte phantasieren, um es anderen recht zu machen.
Unlängst. Bei einem Treffen der Neuen Linken. Es ging um Kultur. Aber alle Arten von Chauvinismen verstellten schon den Zugang zur Analyse der Zustände. Nostalgie ließ eine Kultur begehrenswert erscheinen, die die derzeitigen Zustände mitbegründete. Das Franchising des Louvre nach Dubai war der Schmerz der Debattierenden. Wie die ganze Debatte illustrierte, dass die mediengeschaffene, auf dem 19. Jahrhundert basierende, globalisierte Leitkultur das Objekt des Begehrens war, dann aber gleichzeitig antibürgerliche Sentimente aus dem Ende des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kamen. Dazu gehörte eine gute Portion Sexismus durch Auslassung. Frauen oder andere Geschlechter kamen nicht vor. Ausländer, Migration, Behinderung, Krankheit, Armut, das Recht auf Familie, das Recht auf Selbstverwirklichung, Kunst und Künstler wurden als zu verdächtigende Bedrohlichkeiten betrachtet oder verdrängt.
Etwas, das nicht gesehen wird, kann nicht beschrieben werden. Die Analyse der Zustände wird dann aber unmoralisch. In der Auslassung weiter Bereiche wird ja schon in der Beschreibung Unrecht geschaffen. Wenn die Analyse dazu dient, Zulassungen zu vergeben, dann entsteht wieder Hegemonie. Wenn dann die älteren Herren der Debatte diese Hegemonie für sich schon in der Debatte beanspruchen, dann ist die ganze Angelegenheit obsolet. Dann geht es darum, sich wie eine eingeführte politische Partei auf die Seite des Profits zu schwindeln und zu verdecken, dass es einen eigentlich gar nicht mehr gibt, weil alles dem Erhalt des Zustands zugeordnet worden ist. Ein Erhalt ist das, der jede klare Beurteilung der eigenen Situation verbietet. Wieder sind wir bei den reinen Herzen angelangt. Die Wirklichkeit zeigt sich nur noch dem enthaltsamen, vorurteilslosen Blick. Das war immer so. Die Veränderungen der Wahrnehmung durch die Medialisierung verlangt nun aber einen noch strengeren Durchblick. Auch von sich selbst und den eigenen Erkenntnisfähigkeiten.
In Österreich sind jetzt eine Million Personen im Prekariat. Nicht immer ist das so klar eine Talfahrt des Wasserfallabsturzes gewesen. Es gibt auch die Entscheidung dafür. Aber alle diese Personen stehen vereinzelt einer technologisch effizienten, nachdrücklich nachhaltigen Bürokratie gegenüber. Eine dem Prekariat feindliche Steuereintreibung kann sich da - wieder sehr mittelalterlich - dem bösen Landvogt vergleichen, der in den Hof einfällt und alles mitnimmt. Solchen Vorgängen gegenüber ließ sich in der Debatte bei dem Treffen der Neuen Linken nicht einmal eine Sprachregelung finden. Dem Verhalten von Opfern in unseren Kulturen folgend, wurde den Opfern ihre Not nicht einmal geglaubt. Etwas verständnisvoller war man gegenüber Kulturinstitutionen, weil alle meinen, etwas von Subventionen zu verstehen. Aber in beiden Fällen gab es keine Möglichkeit, eine inhaltliche Debatte zu beginnen. Den prekär arbeitenden Künstlern wurde das Lebensrecht abgesprochen, weil diese "neue" Kunst immer noch mit einem Rückgriff in die Debatten der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts als nicht notwendig angesehen wird. Das ist nur die Ergänzung zur neuliberalen Vernichtung der Reste von Facharbeit. Die Kulturinstitutionen wurden wiederum gutgeheißen, ohne auf deren teilweise neuliberalen Selbstinszenierungen einzugehen. Nichts begriffen, war das Ergebnis. Und keine Aussicht auf Neuerung. Nicht von einer Seite, die sich in Teilrealitäten verschanzt hat und letzten Endes darauf wartet, in dem Film vom verträumten See überhaupt vorzukommen. Koste es, was es wolle.
Marlene Streeruwitz, geboren 1950 in Baden, lebt als Schriftstellerin in Wien. Zuletzt erschienen von ihr der Band: Der Abend nach dem Begräbnis der besten Freundin.
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