Gegenwärtig fegt wieder eine heftige Historisierungs-Welle durch die deutsche Publizistik. Der Deutungskampf um 68 ist noch nicht beendet, da wird der Kampf schon auf die siebziger und achtziger Jahre ausgedehnt. Das ist weniger politisch als marktbegründet: in dieser Zeit waren die Babyboomer jung, sie sind also viele und sie sind kaufkräftig. Und um Verkäufe anzukurbeln, eignen sich Mythen besser als geschichtswissenschaftliche Ausarbeitungen, Vereinfachungen besser als Differenzierung.
Einen Balanceakt besonderer Art versucht in diesem Umfeld der Berliner Journalist Jörg Magenau mit seiner Darstellung der bisherigen Geschichte der tageszeitung. Sie ist einerseits gut verkäuflich, weil sie flott und anekdotenreich geschrieben ist, gleichzeitig eine differenzierte und distanzierte Sicht auf die zahlreichen Konfliktparteien in der taz, und auf steile Thesen wird im Zweifelsfall lieber verzichtet. Nicht alles muss man dabei so sehen wie der Autor, aber dem Leser werden abweichende Sichtweisen ermöglicht, weil er detailreich beschreibt und seine eigene Position erkennbar macht.
taz-Gründerin Ute Scheub schrieb vor einigen Wochen, "ohne RAF und Deutschen Herbst hätte es die taz nie gegeben". Dieser Satz kennzeichnet das enge Feld der gegenwärtigen Historisierungen. Es blendet aus, dass es in der West-BRD eine um ein Vielfaches größere reformistische Linke gab, die nicht nur in den staatlichen Repressionen, sondern auch in der RAF und den anschließenden Kampagnen für "politische Gefangene" eher ein Störfeuer für linke Politik sah. Langweiliger Reformismus lässt sich natürlich wenig mythologisieren oder gar in Kinofilmen verarbeiten. Es wurde nicht geschossen, kaum jemand wanderte in den Knast, hier mal ein Berufsverbot, da mal eine politisch motivierte Entlassung, viel langweiliger Gewerkschafts- und/oder Parteialltag. Daraus waren nicht viele Legenden zu spinnen.
Folgerichtig scheiterte ein mit der taz fast gleichzeitig 1978 gestartetes Konkurrenzprojekt namens Die Neue, obwohl sie zunächst bessere Verkaufszahlen hatte. Sie scheiterte jedoch nicht, wie Magenau schreibt, an "ihrer zu engen DKP-Orientierung". Die der DDR anhängende Deutsche Kommunistische Partei hatte ihr eigenes Medienimperium, und fasste sowohl taz als auch Neue zu Recht als Konkurrenz auf. Die Neue scheiterte tatsächlich daran, dass sie, wie Magenau einen taz-Gründer zustimmend zitiert, "zu langweilig" war. Sie scheiterte außerdem an ihren Kosten, denn sie bezahlte ihre Redaktion. Davon war die taz, wie Magenau ebenfalls eindrucksvoll beschreibt, in ihrer Gründungsphase besonders weit entfernt.
Die taz-MitarbeiterInnen der ersten Jahre behalfen sich zum Bestreiten ihres Lebensunterhalts mit regelmäßigen Besuchen bei Arbeits- oder Bafög-Amt. Selbst bei den kargen 800-DM-Jobs wurde reichlich Jobsharing betrieben. Befriedigung verschafften die taz-ler sich nicht über Geld, sondern ein Gefühl für ihre Bedeutung als, wie sie damals glaubten, linksradikale Avantgarde. Avantgarde waren sie tatsächlich, ökonomisch gesehen aber eher für das Gegenteil, wie Magenau richtig analysiert: "Von heute aus betrachtet erscheint der Projektcharakter als Modell kapitalistischer Betriebe des 21. Jahrhunderts, die Eigenverantwortung und individuelle Selbstbestimmung als Produktivitätsfaktor entdeckt haben. Die Kolonisierung des Lebens durch die Arbeit ist weit fortgeschritten. ... Was einst als große Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft empfunden wurde, entpuppte sich als Kernbestand moderner Bürgerlichkeit."
Gut erfasst Magenau auch die menschlichen Unzulänglichkeiten, die sich seinerzeit in vielen "basisdemokratischen" Projekten breit machten und nicht nur die taz in zahlreiche existenzgefährdende Konflikte stürzten: "Chaos und Transparenz verschwistern sich auf seltsame Weise. ... Ihre Durchschaubarkeit ist eine Illusion. ... Man betonte das subjektive Gefühl und duckte sich weg im Kollektiv. ... Tugenden (Selbstkasteiung, Askese, Opfer für die gemeinsame Sache bringen), die normalerweise eher religiös strukturierte Gemeinschaften kennzeichnen. ... Solidarität ist leichter zu leisten, wenn sie nicht in der Nachbarschaft geschehen muss." Wenn linke Eltern nicht verstehen, warum ihre Kinder ihre Lebensweisen heute nicht nachleben wollen, finden sie hier die Antworten.
Wenig Verständnis bringt Magenau den zuweilen kämpferischen taz-Frauen entgegen. Ihr einst vorherrschender Rigorismus verbunden mit radikaler Humorlosigkeit hat nicht nur ihn erschreckt, sondern veranlasst heute viele durchsetzungsstarke junge Frauen zu betonen, sie seien keine Feministin. Für die von Magenau selbst diagnostizierte Modernisierung der taz wie auch der bürgerlichen Gesellschaft dieser Republik war diese Phase dennoch unerlässlich. Heute registrieren selbst Frontseiten oberflächlicher Nachrichtenmagazine ein "Alphamädchen"-Phänomen. Das Fundament wurde von den seinerzeitigen taz-Frauen mitgeschaffen; gedankt wird es ihnen bis heute wenig.
Ebenso wenig dankt die Konkurrenz der taz ihre Ausbildungsleistung. Es sind vermutlich Hunderte, die "das Stahlbad der taz-Arbeitswelt durchlaufen" haben, um dann bei anderen Blättern mit ihrem Journalismus richtiges Geld zu verdienen. Dieser Prozess, der die taz lebenslang begleitete, sie nicht nur belastete, sondern auch eine kontinuierliche personelle Erneuerung erforderte und ermöglichte, hätte in Magenaus Chronologie einen eigenen Exkurs verdient.
Die unternehmerischen Weichenstellungen der taz-Geschichte beschreibt Magenau mit dankenswerter Klarheit. Der Auflagenhöhepunkt wurde bereits 1987 erreicht - und bis heute mehr oder weniger gehalten. Das war kurz nach Tschernobyl und zwei Jahre nach einer Blattreform, die heutige Selbstverständlichkeiten wie feste Rubriken, klar strukturierte Seiten und die Trennung von Kommentaren und Berichten verankerte. Das Ende der DDR war für die taz von besonderer betriebswirtschaftlicher Bedeutung, weil der Wert ihres gerade erworbenen Hauses in der Kochstraße (heute Rudi-Dutschke-Straße) sich mit einem Schlag vervielfachte. Auch das publizistisch missglückte Experiment Ost-taz brachte einen sechsstelligen Reingewinn. So konnte die taz den Einzug einen Großinvestors, wie es besonders unschön bei der französischen Schwester Libération zu beobachten war, vermeiden und sich stattdessen 1992 an Leserinnen und Leser verkaufen, die Mitglied der neu gegründeten taz-Genossenschaft wurden.
Magenau hat einen guten Blick für die gesellschaftliche Folie, auf der sich dieser Prozess abspielte: "Aus dem grün-alternativen Milieu der 80er Jahre ist in den 90ern eine Schicht der Besserverdienenden geworden, ein neues Bürgertum, das nicht nur Geld besitzt, sondern auch ökologisches Bewusstsein und soziales Engagement. Die taz verwandelte sich parallel dazu." Die große Zeitungskrise zu Beginn dieses Jahrtausends überstand sie dann fast unbeschadet, weil sie als einziges Blatt kaum von Anzeigen lebt. Nur schade, dass sie bei ihren Regionalteilen, insbesondere im großen Nordrhein-Westfalen, der unternehmerische Mut verließ.
Sollte Chronist Magenau auch mit diesem Fazit Recht behalten: "Je professioneller die Zeitung wurde, umso überflüssiger wurde sie auch. Die größten Hoffnungen entfachte sie in den ersten Jahren, als sie am schlechtesten war. ... Frontaler Widerstand ist out, es lebe die hedonistische Subversion"? So muss es nicht bleiben. Ist es beispielsweise frontaler Widerstand oder hedonistische Subversion, die den Einstieg der milliardenschweren Lidl-Gruppe beim Biohändler Basic zu verhindern scheint? Sind es die Biozulieferer, die Basic mit Boykott drohen oder die kontinuierliche Aufklärung von verdi über die dubiose Unternehmensführung bei Lidl? Es ist alles zusammen. Und der bei der taz für diesbezügliche Berichterstattung verantwortliche Wirtschaftsredakteur ist ein ehemaliger Pressesprecher von Attac. Überflüssig ist nichts davon.
Jörg Magenau: Die taz. Eine Zeitung als Lebensform. Hanser, München 2007, 279 S., 21,50 EUR
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