Aus den Rippen geschnitten

Die Abfindungen kommen, die Jobs gehen Bei Opel in Rüsselsheim praktiziert der Betriebsrat einen merkwürdigen Spagat

Dienstag morgen gegen halb zehn. Der Rüsselsheimer Bahnhof empfängt mich, als wolle er die Deutsche Bahn AG repräsentieren: eine Großbaustelle voller Umleitungen. Vor dem Bahnhof warten Busse und natürlich Adam, Adam Opel - aus Bronze, doppelte Lebensgröße. Vor 142 Jahren hat er eine Fabrik gegründet, die zuerst Nähmaschinen, dann Fahrräder und schließlich Autos produzierte. Historisches Gelände also - und nicht nur wegen der Gründungsgeschichte des 1928 an General Motors verkauften Traditionsunternehmens. Hier sollte auch eine Episode stattfinden, die sich später in sozialromantischen Schmuck prominenter Biographien verwandeln ließ.

Den Krieg heim in die Fabriken tragen und im Herzen der Bestie Feuer legen - das ist die Idee Anfang der siebziger Jahre, als Frankfurter Agitatoren gen Rüsselsheim ziehen. Einer von ihnen heißt Fischer und ist Mitglied der Gruppe "Revolutionärer Kampf". Morgens quält er sich aus dem Bett, steht tapfer am Band, wettert gegen Ausbeutung und Schinderei. Ein halbes Jahr hält er durch, der Mann, der heute Außenminister ist, seine Vergangenheit selbstironisch würdigt und mittlerweile - Radikalität muss sein - Zwangsarbeit für Arbeitslose fordert. Mit Fischer ist Tom Königs angetreten, um die Reihen der Arbeiter und Studenten fest zu schließen. Auch er, der später Frankfurts grüner Stadtkämmerer wurde, hat die Rüsselsheimer Geschichten als Bonmot in seinen Lebenslauf gefügt: "Ich bin durch einen Roboter ersetzt worden".

Einer aber ist noch übrig aus der revolutionären Truppe von damals: Klaus Franz, der heutige Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats der Adam Opel AG. Mit Sozialismus hat auch er nichts mehr am Hut. Er kämpft heute für revolutionäre Fabriken - "Leanfield" nennt man das bei Opel. Wenn Franz mal wieder Managerschelte betreibt und sich und seinen Kollegen im Betriebsrat auf die Schultern klopft, erinnert er gern daran, dass "Leanfield" erst auf Druck der Belegschaft eingeführt wurde. Nur was nützt die schlanke Fabrik in Rüsselsheim, wenn General Motors, der Mutterkonzern, in Gliwice gleich dreifach abkassiert? Die Subventionen der polnischen Regierung, die Lohndifferenz und drittens auch noch Gelder des US-Rüstungskonzerns Lockheed Martin, der über General Motors Teile seiner Verpflichtungen aus einem Kompensationsgeschäft abwickelt. Im vergangenen Jahr hatte Polen für 3,5 Milliarden Dollar Kampfjets bei Lockheed Martin bestellt, wofür der Rüstungshersteller im Gegenzug Investitionen in Höhe von sechs Milliarden versprach. Parziell wird nun dieses Versprechen von Opel in Gliwice erfüllt, so das ARD-Magazin Monitor. Gleichzeitig ist der Opel-Stammsitz nur zu 60 Prozent ausgelastet.

Als Mitte Oktober 20.000 Menschen in Rüsselsheim gegen die Sparmaßnahmen von General Motors protestieren, wird der vielseitige Revolutionär Klaus Franz als letzter Redner mit Vorschussbeifall empfangen. Zum europaweiten Protesttag seien insgesamt 50.000 GM-Mitarbeiter angetreten, verkündet er, Familien und Bevölkerung mitgezählt, sogar 100.000. Stolz berichtet Franz über die Solidarität der Belegschaften in Schweden, Polen und Ungarn. "Die Menschen sind verwurzelt mit der Marke Opel, ihr müsst es erst noch lernen" ruft er dem Management zu.

Wie soll man diese Mischung nennen? Internationalistischen Markennationalismus? Wie weit ist es her mit der Einigkeit, der beschworenen internationalen Solidarität, wenn die Gewerkschaft zwar auf ihren Aufklebern "JA! zu OPEL Rüsselsheim und SAAB Trollhättan" in der gleichen Schriftgröße fordert, auf die T-Shirts aber den schwedischen Standort nur noch in winzigen Buchstaben drucken lässt? Was soll die Rhetorik gegen menschenverachtende Standortkonkurrenz und Lohndumping, wenn man nur wenige Wochen nach der Kundgebung Lohnverzicht anbietet, um die Produktion eben doch in Rüsselsheim statt in Trollhättan zu sichern?

Klaus Franz ist ein Mann des gepflegten Spagats. Er habe "vollstes Verständnis für die emotionale Reaktion der Kollegen und Kolleginnen in Bochum", sagt er, als sich dort ein wilder Streik anbahnt. Aber aus seinem Munde kommen auch andere Sätze: "Ich warne davor zu glauben, dass der Kelch des Stellenabbaus an uns vorüber geht". Keine Werksschließungen, keine betriebsbedingten Kündigungen, keine Verletzung der gültigen Tarifverträge, Strategien für mehr Umsatz, nachhaltige Markenpolitik - um diese Forderungen müsse es in Verhandlungen gehen, die nicht durch wilde Streiks erschwert werden dürften.

Das erste Ergebnis der Verhandlungen zwischen Gesamtbetriebsrat und Konzern, das in der vergangenen Woche veröffentlicht wurde, entspricht dieser pragmatischen Haltung. Berthold Huber, der zweite Vorsitzende der IG Metall, spricht von einem Erfolg, weil die Unternehmensleitung von ihrer ursprünglichen Planung abgerückt sei, 10.000 Arbeitsplätze abzubauen, und bedauert die jetzt im Raum stehende Zahl von 6.500 Jobs, die wohl nicht zu retten sind. Dabei rechnen Huber und Franz wie die Milchmädchen: Denn zusätzlich zu den 6.500 direkt abzubauenden Stellen sollen weitere 3.000 per Altersteilzeit abgebaut oder in Joint Ventures ausgelagert werden. General Motors hätte mittelfristig eben doch 9.500 Beschäftigte weniger bei Opel zu entlohnen. Und bei großen Auffanggesellschaften und kleinen Ausgründungen interessiert schon nach wenigen Wochen oder Monaten niemanden mehr so richtig, ob die geschlossen werden oder pleite machen.

Eines allerdings muss man Klaus Franz und seinen Betriebsratskollegen lassen: Nach den bekannt gewordenen Details der Betriebsvereinbarung scheinen die Abfindungssummen, mit denen GM seine überflüssigen Arbeitskräfte los werden will, tatsächlich ungewöhnlich hoch. Damit kann sich Franz vor der Belegschaft sehen lassen: "750 Millionen Euro haben wir GM aus den Rippen geschnitten". Nur den fälligen Hinweis auf das Szenario wilder Streiks, das zur Konzilianz des Unternehmens beigetragen hat, lässt er weg. Und Profit, Mehrwert, die alten Kampfbegriffe, die heute noch viel besser passen würden als vor 30 Jahren, hat er vielleicht auch schon vergessen.


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