Als er den Italiener am Frankfurter Hauptbahnhof betritt, scheint es, als hätte der kalte Wind gerade den Protagonisten eines Films von Rudolf Thome oder Klaus Lemke hereingeweht. Ein klares Gesicht, dem das Lächeln näher ist als der Zorn. Die Haare wie angesogen und in verwegener Unordnung. Hände, die keinen Ruhezustand kennen. Unter den Bankern und Versicherungsangestellten, die hier ihre Mittagspause verbringen, fällt der 42-jährige Intendant und Regisseur sofort auf. Kay Voges kommt gerade aus Dortmund, wo er seit 2010 die Schauspielsparte des Theaters leitet, und hat nichts an sich von der blankpolierten Korrektheit, die in dieser Umgebung nicht selten ist.
Es ist die Reise an den Ort eines Triumphs. Seit Dezember zeigt das Schauspiel Frankfurt Voges’
oges’ Interpretation von Tennessee Williams’ Zivilisationsdekonstruktion Endstation Sehnsucht, in der in Gestalt der alternden Südstaatenschönheit Blanche DuBois ein Milieu scheitert, das seiner Zukunft verlustig geworden ist. Ein Abend der Superlative, ein Gesamtkunstwerk aus Konzeption und Umsetzung. Konservativ und revolutionär, klassisch und innovativ.Theater müssten zu Parkhäusern werden, hat Autor Thomas Meinecke einmal während eines veritablen Wutanfalls gefordert. Man sollte ihm Karten für diese Produktion schicken, genauer: für die Produktionen. Denn Endstation Sehnsucht ist, in Inhalt und Vermittlung, eine Symbiose mehrerer Darstellungsformen, wobei jede für sich allein bestehen könnte. In der Mitte der Spielfläche die Guckkastentotale, flankiert von gleich großen Projektionsflächen für die während jeder Aufführung live gefilmten und geschnittenen Nahaufnahmen. Kino? Theater? Kinater! In Frankfurt sind die leisen, intensiven Momente einer Inszenierung stets durch ein gefräßiges Monstrum von Bühne bedroht und viele Theatermacher deshalb bemüht, den Raum zu verkleinern. Kay Voges geht den umgekehrten Weg. Wo andere verengen, weitet er, vergrößert den Rezeptions- und Resonanzkörper im Zuschauer, macht Angebote. Die Diktatur des Regisseurs wird abgelöst durch den Pluralismus der Perspektiven.Mit HandschlagDahinter steht ein Anspruch, eine Philosophie. „Ich will nicht eine Seite erzählen, sondern alle parallel“, sagt er und zielt auf das mündige und empathische, zum emotionalen Spurwechsel fähige Publikum. Eines, das auch selbst entscheiden soll, ob es ins Theater geht oder sich Aufführungen im Internet anschaut: Bei der mitunter absurden Debatte, ob Livestreaming ermöglicht werden sollte, ist Voges Wortführer der Pro-Fraktion. Ärgert sich, dass sich die Bühnen immer noch abschotten. Was auch für die Bauweise vieler Theater gelte. „Wir müssen uns fragen, ob eine Architektur, die von oben Wahrheiten verkündet, noch kompatibel ist mit dieser Zeit. Die griechischen Amphitheater waren viel mehr auf Diskurs ausgerichtet und damit weiter.“Öffnen, demokratisieren, Barrieren beseitigen. Nach außen, aber auch innen. Es sind mitunter kleine Gesten, die große Geschichten erzählen. Als die Heinrich-Böll-Stiftung unlängst in Berlin über Livestreaming diskutieren ließ, nahm er teil. Nachdem seine Dortmunder Inszenierung 4.48 Psychose reibungslos übertragen worden war, bedankte er sich während einer Pause dafür bei jedem Techniker mit Handschlag. Später stand er noch lange mit ihnen im Foyer zusammen, während drinnen Fachpublikum und Podium mit verschränkten Armen und kulissenblecherner Mimik von Gloriolen behaupteter Bedeutung ausgeleuchtete Gruppenbildnisse formten. Und zu Beginn seiner Intendanz traf er sich mit ehemaligen Kohlekumpeln, löffelte Suppe und fragte sie über ihr Leben aus. Einer, der dabei war, ist noch heute fasziniert davon, wie hartnäckig und zugleich sensibel Voges nachhaken kann.Den Blick für die Welt, für den anderen fordert er ein. „Es gibt keinen Platz für Arroganz. Nicht in der Gesellschaft, nicht im Theater. Eitle Schauspieler will ich nicht sehen.“ Deshalb rekrutiert er solche, die nicht die Abgrenzung, sondern das Kollektiv suchen. Sein Ensemble hat 17 Darsteller, drei davon holte er direkt nach der Ausbildung. Voges zieht zudem Hochkaräter an, denen andere Intendanten höhere Gagen zahlen könnten und konnten. Voran die 27-jährige Merle Wasmuth, die als Großtalent vom Wiener Burgtheater kam, als das noch Elysion und nicht schon Krisengebiet war. Was er „angstfreies Arbeiten“ nennt, strahlt aus: „Theater ist ein Labor der Gegenwart. Das bedeutet, es kann und darf einem auch um die Ohren fliegen.“Wer so redet, kennt Scheitern, Irren, Neubesinnen aus der eigenen Biografie. In Krefeld als Sohn eines Programmierers, der zuvor Koch war, und einer Therapeutin aufgewachsen („Da kann man nur Künstler werden“), stand er mit 16 Jahren unter einem Holzkreuz in der Amsterdamer Innenstadt und missionierte für eine evangelikale Gemeinde. Zwei Jahre später warf er während eines Gottesdienstes eine Bibel durch die Kirche und trat aus. Er machte eine Ausbildung zum Heimerzieher, studierte kurz Soziologie, wurde mit 21 Jahren Vater, betreute Jugendliche in einer Wohngruppe, erprobte sich als Maler und Fotograf, war Filmvorführer in einem Kino und Aufnahmeleiter, gründete mit einem Freund eine Produktionsfirma, kam schließlich zum Theater. Ein Regiestudium hat er nicht absolviert. Wozu auch? Als Regisseur sei man ohnehin „ein von Spezialisten umgebenes Mängelwesen, das nichts richtig kann“.Voges will das Theater cineastisch stimulieren und das neue Medium dabei zur Botschaft machen. Seinen Hamlet transformiert er in einen Überwachungsstaat, das dänische Königsschloss der Vorlage wird zu einer Mischform aus Weißem Haus und NSA-Hauptquartier. Was wie eine devote Verneigung vor dem Zeitgeist anmutet, ist tatsächlich die werktreue Wiederentdeckung eines Sujets. Schon Shakespeare sezierte ein homogenes Gemenge aus innerer und äußerer Repression, stellte der skrupulösen Titelfigur den Machttechnokraten Claudius entgegen, der reihenweise Höflinge als Spitzel anwirbt. Hat es alles schon einmal gegeben, lautet der Subtext von Voges’ Bearbeitung, gestern ist heute. Und Fiktion und Realität sind eins: Wer am Ende der Offerte folgt, die Aufführung mittels SMS zu bewerten, wird Teil des Plots. Man hat das Theater lange verlassen, die eigene Kurzrezension ist vergessen, da vermeldet das Handy nach einer halben Stunde eine eingehende Nachricht: „Wir danken für Deine Daten. Grüße aus Helsingør.“ Das Imperium vergisst nichts und niemanden.Klirrende PräzisionAuch bei Endstation Sehnsucht dient der Einsatz cineastischer Produktionstechnik als Stilmittel. Tennessee Williams lässt ein Paar und Blanche, die Schwester der Ehefrau, in zwei Zimmern vegetieren; jede Privatheit wird erstickt. Die Allgegenwart der Kamera bildet das ab und fordert die Darsteller. „Sie ist gleichzeitig Bedrohung und Geschenk, erzeugt Authentizität. Was nicht gut gespielt wird, deckt sie auf. Das diszipliniert“, sagt Stephanie Eidt, der es mit klirrender Präzision gelingt, Blanche als sinnenhysterische Erotomanin und Alkoholikerin zu porträtieren, ohne die Figur zu diffamieren. Dass beide Kameramänner sichtbar sind und Prozess und Produkt damit ineinander übergehen, sei irgendwann selbstverständlich geworden, sagt Oliver Kraushaar, der Blanches Schwager Stanley als Sentimentalitätsbrutaliker verkörpert: „Die wurden zu Mitbewohnern.“Virtuos nutzt Voges dabei die Variabilität der Kamera, um die Dynamik der Handlung zu verstärken. Als das Leben im Konjunktiv endet und Blanche in den Wahn abgleitet, verschwindet mit der letzten Illusion, mit dem letzten Spurenelement von Bewusstheit auch der detailreiche Naturalismus. Die Kamera wird ihr Blick, sieht zu Fratzen verzehrte Gesichter und sich in verwaschenen Tönen auflösende Konturen. Am Ende steht Eidt auf der Vorbühne, dahinter ein Sternenhimmel, und ihre letzten Worte sind das Vermächtnis einer geknechteten und ausgeschabten Seele: „Ich will keinen Realismus. Ich will Zauber.“Vieles spricht dafür, dass Voges’ Theater in der Verknüpfung von realistischem Bühnenbild und psychologischem Tiefenporträt seine größte Wirksamkeit, seinen vollendeten Aggregatzustand erreicht hat. Auch wenn es Leerstellen lässt, Antworten verweigert. „Gibt es denn eine objektive Wahrheit? Nein. Es gibt nur Perspektiven“, sagt er, während sich vor der Fensterfront aschgraue, reglose Wolken aufplustern und bereits das Dunkel des nahenden Abends vorwegnehmen. Dann muss er gehen. Der derzeit interessanteste Regisseur des deutschen Theaters hat noch zu tun. Es gibt viel zu retten.Placeholder infobox-1
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