Mit überwältigender Mehrheit entschied die UN-Generalversammlung am 8. November 2005 in New York, auf ihrer nächsten Sitzung über die Notwendigkeit der Beendigung des Wirtschafts-, Handels- und Finanzembargos der US-Regierung gegen Kuba zu beraten. Es war bereits die 14. Verurteilung durch diese Versammlung gegen die seit 1961 verhängte US-Blockade. Auch der britische EU-Ratspräsident betonte, dass eine Aufhebung des Embargos in erster Linie dem kubanischen Volk zugute kommen würde. Allerdings äußerte er auch erhebliche Kritik an der Menschenrechtslage in Kuba.
Es ist in weiten Kreisen Mode geworden, diese alltäglichen Menschenrechtsverletzungen auf Kuba gegen die menschenverachtenden Maßnahmen und Repressalien des US-Machtapparats zu rechnen oder gar zu minimalisieren. Zeigt nicht gerade das Schicksal der Völker in den ehemaligen sozialistischen Ländern, wohin importierte so genannte "demokratische Öffnungen" führen? Die US-Basis Guantánamo auf der Insel Kuba schließlich hat als karibischer Archipel GULAG erschütternde Symbolkraft erhalten.
Aber da die Menschenrechte universell sind, darf auch das völkerrechtswidrige Verhalten der US-Regierungen in so vielen Fällen und an so vielen Orten der Welt seit dem 19. Jahrhundert nicht blind machen gegenüber dem historischen Experiment Kuba. Die Tatsache, dass die ständigen verzweifelten Ausbruchsversuche von Menschen größtenteils erst nach dem Sieg der Revolution geboren wurden, spricht für sich.
Worin liegt das vielbeschworene Charisma eines kubanischen Líder Máximo, der seit ebenso vielen Jahrzehnten seine Machtpotenz als Präsident der Republik, Erster Sekretär der KP, Präsident des Staatsrats, Präsident des Ministerrats und Oberkommandierender der Streitkräfte in die Oktroyierung einer neuen Klassengesellschaft gestellt hat? Nur Queen Victoria, die Königin von England (1837-1901) und Franz Joseph, der Kaiser von Österreich und König von Ungarn (1848-1918), haben länger regiert, allerdings als Salonrepräsentanten.
"Con Cuba, contra el Imperio", heißt es in dem Kommuniqué einer Allianz Antiimperialistischer Intellektueller (El País, 26. 7. 2003). Aber mit welchem Kuba? Mit den von der kubanischen Staatssicherheit unterwanderten Menschenrechtsgruppen auf der Insel? Mit den regimetreuen "brigadas de respuesta rápida", den schnellen Eingreifbrigaden und ihren "actos de repudio", Akten der Einschüchterung, Schlägertrupps mit primitivem Psychoterror? Oder mit der breiten Masse der Bevölkerung, die um das tägliche Überleben kämpft?
In einem Untergangsszenario von Cuba Sí, einer Arbeitsgemeinschaft der PDS heißt es: "Die Hoffnung Kuba hat sich erledigt, und jede Diskussion hat sich erübrigt, wenn US-Truppen im Namen von Freiheit und Demokratie Streubomben über Havanna, Santiago oder Santa Clara abwerfen, um Kuba in ein Bordell der USA zurückzubomben. Darum geht es, dagegen wehrt sich Kuba, und dafür braucht es vor allem unsere Solidarität, jetzt!" Misereor und Adveniat locken wenigstens mit der Beschreibung realer Verhältnisse den Menschen den Solidaritäts-Euro aus der Tasche. Andere begnügen sich mangels Argumenten mit fiktiven Situationen. Aber hat Bush nicht sogar Kuba unter die Schurkenstaaten eingereiht?
Die Farce oktroyierter Blockade
In jüngster Zeit ist wieder die Diskussion aufgeflammt, ob es sich im Falle Kubas um Blockade, Embargo oder Boykott handelt. Je nach politischen Interessen werden diese Begriffe unterschiedslos angewandt. Fest steht, dass schon bei so simplen Dingen wie Geldüberweisungen nach Kuba die negative Einheitsfront deutscher Banken den langen Arm der US-Politik offenbart.
Das kubanische Wirtschaftssystem wurde seit Jahrzehnten aus politischen Gründen von den sozialistischen Ländern künstlich alimentiert und war damit zur Unselbstständigkeit verdammt. Durch die Beschlüsse des COMECON seit 1972 wurden Kuba und Vietnam in die Rolle überwiegender Agrarproduzent gedrängt. Der Bankrott der von der KP Kubas dominierten Planwirtschaft und mixed economy hat die US-Regierungen dagegen nicht erst seit heute einen Zickzackkurs gegen Kuba fahren lassen: einerseits ständig restriktivere und ausgefallenere Sanktionen, andererseits Business As Usual in der Hoffnung auf Wandel durch Annäherung. Diese Strategie ist keineswegs neu und originell, aber der Leidtragende ist in jedem Falle das kubanische Volk.
Werfen wir einen Blick auf die Gegenwart des pragmatischen Umgangs mit den gesetzlichen Zwangsmaßnahmen! Im Dezember 2001 autorisierte die nordamerikanische Regierung auf Druck der Farmer-Lobby eine Reihe von US-Firmen, Nahrungsmittel und Agrarprodukte in das nahe Kuba nur gegen cash zu verkaufen. Der Transport ist nur auf nordamerikanischen Schiffen erlaubt. Auf kubanischer Seite organisiert bis heute die Firma Alimport diesen Handel.
Die kubanische Regierung kaufte seit Ende 2001 allein über 200.000 Tonnen Reis in den USA. Aber selbst Zuckerimporte und Gefriergeflügel standen auf der kubanischen Wunschliste. Die Lieferungen gingen 2004 von Port Manatee, dem fünftgrößten Hafen Floridas aus. In jenem Jahr kaufte Kuba in den USA bereits über 650.000 Tonnen Mais, 700.000 Tonnen Soja, 480.000 Tonnen Weizen und 200.000 Tonnen Hühnerfleisch. Es wurde auch ein Vertrag über Rinder aus Florida im Wert von 450.000 Dollar unterzeichnet. Für ein kleines Land wie Kuba, das keinerlei Kredite vom IWF erhält, bedeutet das eine gewaltige Anstrengung.
Die Rolle der USA als Hauptlieferant von Nahrungsmitteln nach Kuba hatte einen Besucherboom nordamerikanischer Politiker und Geschäftsleute auf der Karibikinsel zur Folge. US-Handelsdelegationen, Senatoren, Kongressabgeordnete, Regierungsgouverneure, kleinere und mittlere Agrarproduzenten gaben sich in den Ministerien in Havanna die Klinke in die Hand.
Das beunruhigte die traditionellen europäischen, asiatischen und lateinamerikanischen Handelspartner, die auf diesem einzigen Flecken der Welt bisher keine nordamerikanische Konkurrenz zu befürchten hatten. Nach kubanischen Vorstellungen wird es in Zukunft jedoch nach den traumatischen Folgen der weitgehend unilateralen Beziehungen mit dem Ostblock bei diversifizierten Handelspartnern weltweit bleiben.
Verwunderlich ist schon, dass die kubanische Regierung die nordamerikanischen Waren bar bezahlt, während sich zum Beispiel die europäischen Handelspartner meist mit teilweise langfristigen Kreditzusagen ihre Kontakte erkaufen müssen. Man kann das auf die Haltung der Europäischen Union zurückführen - laut Castro "Geisel" der US-Politik -, welche den Ausbau der Handelsbeziehungen mit Kuba gelegentlich mit der Menschenrechtsfrage verknüpft. Dieser Konnex wiederum ist den Businessmen in den USA egal.
Nach kubanischer Auffassung seien die Warenimporte aus den USA vor allem wegen der verheerenden Folgen der Naturkatastrophen notwendig geworden. Der kubanische stellvertretende Wirtschaftsminister Angel Dalmau bezeichnete die Stützungskäufe auch als eine Art politischen Akt, um die US-Blockade aufzuweichen. Dieser Testcharakter wurde von offizieller kubanischer Seite allerdings umgehend dementiert.
Es bleiben die grundsätzlichen Fragen im Raume: Weshalb ist es in 47 Jahren revolutionärer Entwicklung der kubanischen Regierung nicht gelungen, eine von unten gewachsene soziale Marktwirtschaft aufzubauen, die zu einer tragfähigen Subsistenzwirtschaft führen konnte? Welche wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten hat eine kleine Insel, die nur 90 Meilen von der Südküste der USA entfernt ist? Welche Zukunftsperspektiven hat ein Land, das in fast vier Jahrhunderten Kolonialismus auf die Monokulturprodukte Tabak, Rum, Zucker und Nickel festgelegt ist? Wie kann sich dieses Land auf die Dauer auf dem beinharten Markt des internationalen Tourismus behaupten?
Verstärken die erschwerten Devisentransfers von Exilkubanern und ihren Freunden aus dem Ausland die parasitäre soziale Hängematte auf der Insel? Ist die gegenwärtige Situation Folge des Zusammenbruchs des realsozialistischen Staatenbunds in Europa oder Folge der nordamerikanischen Restriktionen oder Folge der inselkubanischen Eigenblockade und Wagenburgmentalität? Lässt sich die gegenwärtige Situation innerhalb bestehender interner und externer Strukturen und Faktoren verändern oder müssen diese Strukturen liquidiert werden?
Als Teil der sogenannten II. Welt des Sozialismus und als Teil der sogenannten III. Welt hat das kubanische Volk in knapp einem halben Jahrhundert gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Transformationsprozesse einiges erreicht, aber auch erdulden müssen. Kriege und Revolutionen haben immer einen hohen Preis: Sie teilen die Völker und führen zu Emigration und Tragödien.
Soziale Errungenschaften und individuelle Menschenrechte
Dieses Begriffspaar wird in der internationalen Diskussion oft einander gegenübergestellt, aber es ist unteilbar. Wenn Castro unter der Parole "Sozialismus oder Tod" sein System als immer noch ungerecht, aber gerechter als den Kapitalismus bezeichnet, muss er sich einer strengeren Bewertung unterziehen lassen. Denn zu jeder sozialistischen Marktwirtschaft gehört eine demokratische Öffnung. Ohne Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit ist jede Planwirtschaft, selbst mit limitierten privatwirtschaftlichen Einsprengseln, zum Scheitern verurteilt, weil den Menschen die Motivation und Zukunftsperspektiven fehlen.
Die sozialen und individuellen Menschenrechte werden auch hierzulande verletzt, aber es gibt eine Gegenöffentlichkeit und Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen und sich zumindest Gehör zu verschaffen. An dieser mühsam immer neu erkämpften Zivilgesellschaft und Zivilcourage mangelt es weitgehend auf Kuba. Zu hart waren manche Exempel der Vergangenheit. Sind die Angst vor der Zukunft oder der letzte Kinderglaube an die sozialen Errungenschaften einige der Gründe für die Apathie weiter Kreise einer des politischen Handelns entmündigten Bevölkerung?
Das scheinbar kostenlose Schulsystem und die scheinbar kostenlose medizinische Versorgung werden von der kubanischen Bevölkerung seit Jahrzehnten durch minimale Löhne als indirekte Steuern bezahlt. Die schmalen privatwirtschaftlichen Initiativen werden durch ein willkürlich kalkuliertes Steuersystem gebremst. Die Lebensmittelkarte reicht nicht einmal für den halben Monat aus und ist von ständigen Engpässen begleitet. Bezugsscheine für Kleider und Schuhe gibt es schon seit vielen Jahren nicht mehr. Das ist der Alltag für die Mehrheit der kubanischen Bevölkerung, die ihr Heil in einem blühenden Schwarzmarkt sucht.
Ist noch etwas verteidigungswert am kubanischen System? Oder gewinnt nicht gerade der kubanische Versuch eines Weges aus der Unterentwicklung angesichts der zunehmenden Verelendung der "Dritten Welt", der Experimentierbühne der ehemaligen sozialistischen Länder und der moralischen, politischen und wirtschaftlichen Krisen des Kapitalismus eine neu zu überdenkende Bedeutung?
Solidarität ist keine Einbahnstraße
Václav Havel, Apád Göncz und Lech Walesa haben in einer Erklärung vom September 2003 zu ausschließlicher Unterstützung der kubanischen Opposition im In- und Ausland aufgerufen. Diese Einschränkung und Abgrenzung verkennt, dass alle halbwegs gelungenen Übergangsprozesse in der Geschichte über viele Dialogphasen langsam gereift sind und keine Bevölkerungsgruppe und ihre Trauerphasen auszuschließen versuchten.
In diesem Sinne haben sicherlich die Kräfte eine Zukunft, die für einen friedlichen, basisdemokratischen Übergang innerhalb sozialistischer Gerechtigkeitskonzepte in Kuba eintreten. Aus einer Politik der Unsicherheit lehnt die kubanische Nomenklatura dagegen alle Versuche der Diskussion über Demokratie, Menschenrechte und Zivilgesellschaft in ihrer praktischen Umsetzung im Zusammenhang mit Übergangsprozessen als konterrevolutionär und quintacolumnismo ab.
Das heißt im Klartext: Es ist noch ein weiter Weg, bis es in Kuba eines Tages keine alles abnickende Einheitsgewerkschaft mehr gibt. Es ist noch ein weiter Weg, bis es statt der Schnüffelorganisation der "Komitees zur Verteidigung der Revolution" Nachbarschaftskomitees gibt, die sich selbst konstituieren. Es ist noch ein weiter Weg, bis es keine "Märsche des kämpfenden Volkes" mehr gibt, keinen Frauenverband mit obligatorischer Mitgliedschaft, kurzum keine von oben verordneten Massenorganisationen mit ihren Aufstiegsritualen, Gruppenzwängen und Abgrenzungsriten.
Die Stärkung und der Ausbau der menschlichen Beziehungen im Sinne der Zivilgesellschaft sind eine wichtige Grundlage für das Überleben des kubanischen Volkes in Würde. Neben der kritischen Solidarität im institutionellen Rahmen muss die individuelle Solidarität ihren Platz haben. Mit den dialogbereiten Teilen der Exilkubaner muss das Gespräch verstärkt werden. Es darf nicht darum gehen, das linke Fäustchen zu recken und Durchhalteparolen ("Cuba sí, Yankis no") zu schreien, sondern partnerschaftlicher Dialog ist gefragt.
Gerade die deutsche Bevölkerung ist der kubanischen zu Dankbarkeit und Hilfe in traditioneller Freundschaft verpflichtet. Fast 700 kubanische Freiwillige haben im Spanischen Bürgerkrieg und teilweise später im Untergrund in Frankreich und auf den Schlachtfeldern Europas gegen den Hitler-Faschismus gekämpft. Einige von ihnen sind nach Verhaftung und Deportation in deutschen Konzentrationslagern ums Leben gekommen.
Andererseits hat das kubanische Volk während des Dritten Reichs über 15.000 Flüchtlingen aus ganz Europa, darunter auch vielen jüdischen und deutschen Emigranten, Zuflucht und Unterstützung gewährt. Es gibt noch viele, wenig ausgeleuchtete Kapitel der Weltgeschichte.
Martin Franzbach ist Professor für Literatur- und Sozialgeschichte an der Universität Bremen und Präsident der Deutsch-Cubanischen Gesellschaft.
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