Als im Jahr 2001 die ersten Plattenbauten auf dem Gebiet der früheren DDR im Rahmen des Programms "Stadtumbau Ost" abgerissen wurden, sahen viele Beobachter darin eine letzte symbolische Niederlage des sozialistischen deutschen Staats. Schließlich traf es in erster Linie Stadtneugründungen der DDR und die sozialistischen Musterstädte wie Eisenhüttenstadt, Schwedt und Wolfen, in denen bereits vorher die riesigen Industrie-Kombinate zerschlagen worden waren, denen nun die Wohnungen folgten. Diese Städte scheinen vor allen Dingen jungen Menschen kaum eine Perspektive mehr zu bieten, sie verloren binnen zehn Jahren bis zu einem Drittel ihrer Einwohner.
Zwischenstädte
Es ist allerdings ein Fehlschluss, zu glauben, dass sich die Schrumpfung der Städte nur in den östlichen Bundesländern abspielt und als finale Rache des gewinnenden Westens über den verlierenden Osten gedeutet werden kann. Denn auch in den alten Industrierevieren des Westens, im Ruhrgebiet, im Saarland, ja sogar in Stuttgart gehen die Einwohnerzahlen zurück.
Im Westen lässt sich jedoch auch das Gegenteil feststellen. Frankfurt und München platzen aus allen Nähten, was sich nicht zuletzt an zum Teil doppelt so hohen Mieten wie in Berlin für vergleichbare Wohnungen niederschlägt. Und auch in der unmittelbaren Umgebung schrumpfender Städte lässt sich keine Abnahme von Einwohnerzahlen sondern quantitatives Wachstum feststellen. Denn obwohl Leipzig, Berlin, aber auch Stuttgart und Hamburg innerhalb ihrer Stadtgrenzen in den nächsten Jahren weiter Einwohner verlieren werden, wachsen die Speckgürtel um diese Städte weiter an.
Als Suburbia wird die Zwischenstadt bezeichnet, die funktional den Bedürfnissen der Mittelklasse nach Eigenheim, Einkaufscenter und einem "naturnahen" Umfeld entgegen kommt, aber bestimmte städtische Eigenschaften nicht mehr aufweist. Auf Theater, Konzert und Qualitätskino können die meisten Deutschen sowieso verzichten. Was diese Zwischenstädte so interessant macht, ist, dass ihre Bewohner die Unwägbarkeiten des öffentlichen Raums, ein Charakteristikum für Städte, hier nicht auszuhalten brauchen. Die Konfrontation mit Fremden, die Anonymität, die Unsicherheit, wie man sich verhalten soll, also all das, was seit je her den großstädtischen Raum mitunter auch schwer erträglich macht, gibt es hier nicht. Vom Eigenheim bewegt man sich im blechgepanzerten Eigenmobil zur Arbeit, zum Shoppen oder zum Tennisclub. Alle diese Aktivitäten stehen unter der Prämisse des Privaten. Öffentlichkeit kann man sich ein oder zwei Mal pro Jahr bei einem großen Event in der Stadt abholen, darüber hinaus gibt es das Fernsehen.
Die widersprüchliche Entwicklung von schrumpfenden Großstädten, boomenden Zwischenstädten, stagnierenden Klein- und Mittelstädten und wenigen wachsenden Dienstleistungsmetropolen findet sich selbstverständlich auch im Weltmaßstab. Die alten Industriestädte schrumpfen auch in den USA, in Großbritannien und in Russland, und auch hier gibt es einige wenige Städte, die als global cities mit der Expansion der Finanzmärkte prosperieren und wirtschaftlich, physisch und in der Zahl ihrer Einwohner wachsen. Dass den Städten in Europa und den USA die Industrie abhanden gekommen ist, hat viele zu der Annahme getrieben, dass Städte an sich obsolet würden.
Im Boom der Informations- und Kommunikationstechnologien sah zum Beispiel der frühere Stadtsoziologe Manuel Castells den Niedergang des europäischen Stadtmodells begründet. Die gesellschaftlich notwendige Kommunikation werde virtuell in den Netzwerken der Informationsgesellschaft geleistet, dazu brauche es keine Städte mehr. Von Produktion ist bei ihm nur sehr wenig die Rede.
Langfristiger Schrumpfungstrend
Tatsächlich ist die alte fordistische Massenproduktion von Konsumgütern aber ebenso wenig von dieser Erde verschwunden wie die "schmutzigen Industrien" des Montansektors. Wenn im Ruhrgebiet oder in der Lausitz keine Kohle mehr gefördert wird, liegt das daran, dass in China viel billiger produziert wird und Menschen unter katastrophalen Sicherheitsbedingungen für wenig Geld unter Tage arbeiten. Dies wirkt sich unmittelbar auf die Stadtentwicklung in Europa aus. Wo es keine Industrie mehr gibt, werden die Menschen arbeitslos, ziehen weg oder fallen in Agonie, die Städte schrumpfen und einzelne Stadtviertel verfallen sozial zu Elendsquartieren.
Auf diese Entwicklung wiesen die Stadtsoziologen Walter Siebel und Hartmut Häußermann bereits 1988 hin, und sie bezogen sich dabei nur auf die alte BRD. Heutzutage wird häufig so getan, als ob sich die Schrumpfung der Städte in den letzten fünf Jahren überraschend ergeben hätte. Ebenso wie die demographische Entwicklung ist die Deindustrialisierung in Europa aber ein langfristiger Trend, dem politisch nicht begegnet wird. Im Zeitalter des Neoliberalismus werden sozio-ökonomische Entwicklungen wie Naturereignisse hingenommen, denen man nicht entrinnen kann.
Die wenigen neuen Jobs, die in den neuen Industrien entstanden, konzentrieren sich an den Medien- und Finanzstandorten. Hier findet sich auch der Irrtum der postmodernen Stadttheoretiker der neunziger Jahre widerlegt, dass die Stadt per se keine Bedeutung mehr habe. Gerade in den I- und K-Technologien ist der persönliche Kontakt face to face wichtiger als je zu vor. Persönliches Vertrauen bei hochriskanten Projekten, Seilschaften im Kampf um den nächsten Job und die produktive Auseinandersetzung mit neuen Einflüssen erfordern die physische Anwesenheit der Berufstätigen an konkreten Orten. Einige Informationen erhält man eben nur beim privaten Gespräch in bestimmten Restaurants.
Das moderne Stadtmarketing wirbt deshalb mit den soft qualities einer Stadt. Diese zeigen sich im sozialen Kapital, also dem Geflecht der Beziehungen, und auch im diversifizierten Kulturangebot und vielfältiger Gastronomie, das die neuen in Kommunikationsberufen tätigen Mittelschichten nutzen. Kultur und soziale Indikatoren werden so zum Standortfaktor. Innovative Milieus siedeln sich in so genannten Clustern an, in Netzwerken von verschiedenen, zum Teil sehr kleinen Firmen innerhalb eines stadträumlich engen Gebietes.
Doch außer den zwei bis drei bundesdeutschen Boomtowns geht es allen andern Großstädten schlecht. Die vielen Arbeitslosen werden nicht alle in der Kommunikationsbranche Arbeit finden, dafür sind sie gar nicht ausgebildet (und selbst die dafür Ausgebildeten finden nur schwer einen Job). Die Zukunft dieser Vergessenen der Globalisierung liegt in ihrer Funktion als Dienstleister für die Kommunikationsprofis als Servicepersonal, Putzdienst und Wachleute. So sehen es jedenfalls die Arbeitsmarktpolitiker der etablierten Parteien. Hartz IV dient bekanntlich dazu, das städtische Subproletariat für diese "niederen Dienste" weich zu kochen.
Somit wird sich der Trend zur Dual City verstärken, in der gut ausgebildete und bezahlte Konsumorientierte ihr Geld mit schneller Kommunikation verdienen und sich von mäßig ausgebildetem, zumeist aus Migrationshintergrund stammendem Personal bedienen lassen. Beide Milieus werden sich in unterschiedlichen Stadtgegenden niederlassen, was eine verstärkte Segregation zur Folge haben wird.
Diese Entwicklung hat der Soziologe Ulrich Beck einmal als die Brasilianisierung der deutschen Gesellschaft bezeichnet. Letztendlich materialisiert sich in der Stadtentwicklung das globale Dogma des Neoliberalismus. Da nur die wenigsten Städte Boomtowns sein können, müssen die meisten schrumpfen. Während einige Stadtviertel "angesagt" sind, werden andere per Polizeidekret als "gefährliche Orte" stigmatisiert.
Kreative Zwischennutzung
Kürzlich forderte der in Cottbus und Erkner forschende Regionalplaner Dieter Keim einen kreativen Umgang mit schrumpfenden Städten. Doch worin könnte der bestehen? Da neben den Großsiedlungen vor allen Dingen auch viele Altbauten in den ostdeutschen Innenstädten leer stehen, ließe sich möglicherweise aus der Berliner Geschichte der letzten 25 Jahre eine "kreative" Handlungsoption für die Stadtplanung ableiten. Denn großer Leerstand von Wohnraum bedeutet einen entspannten Wohnungsmarkt und der bietet Handlungsmöglichkeiten für alternative Lebensstile und Wohnraum für die nicht so gut betuchten Migranten. In Berlin sind Anfang der achtziger Jahre sowohl im Westen als auch zehn Jahr später im Osten vom Verfall bedrohte Innenstadtviertel durch Hausbesetzungen und Zuzug von Ausländern vor der Kahlschlagsanierung "gerettet" worden.
Es mag für Revolutionsromantiker im Hausbesetzermilieu frustrierend sein, aber es sind gerade diese Viertel, in denen eine alternative Ökonomie den Boden bereitet hat für die Revitalisierung der Innenstädte und ihre heutige Attraktivität für die neuen Mittelschichten. Dass die Revolte über kurz oder lang ins kapitalistische System integriert wird, mag schmerzhaft sein. Doch bietet sich die alternative Zwischennutzung für die Stadtentwicklungspolitik zur Zeit als eine der wenigen Optionen an. In den ostdeutschen Städten könnten die bestehenden und entstehenden leeren Räume zumindest temporär von studentischen und künstlerischen Milieus für die Erprobung gar nicht mehr so neuer Lebensformen geöffnet werden, statt sie als "national befreite Zonen" den Rechtsradikalen zu überlassen. Die kreative Zwischennutzung als vorläufiger Dauerzustand ist für alle Beteiligten besser, als wenn sich die Ödnis der Zwischenstädte weiter ausbreitet.
Mit derlei Programmen wird sicher keine Trendwende in der Stadtentwicklung eingeläutet werden. Doch kann in der derzeitigen Situation kaum per Regierungsbeschluss eine Reindustrialisierung und damit eine Revitalisierung der Städte erwartet werden. Und seien wir ehrlich, statt in versmogten, vom Verkehr überfluteten und überteuerten Boomcities täglich im wahrsten Sinne des Wortes ums Überleben zu kämpfen, lassen sich in einer weitgehend von der Globalisierung unbeleckten und gemütlichen Metropole wie Berlin viele positive Aspekte finden. Die fröhliche Dekadenz prägt seit ihren besten Jahren in den goldenen Zwanzigern den Mythos der Stadt. So lässt sich auch in anderen Städten die Idee des kreativen Umgangs mit Schrumpfung als Aufforderung an die Stadtplaner deuten, Raum offen zu lassen, damit die Bewohner aus einem quantitativen Weniger ein Mehr an Lebensqualität für sich entwickeln können.
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