Auch in Afghanistan sitzen die Menschen vor dem Fernseher. Sie sehen Berichte über ihr eigenes Land und sind ebenso ratlos wie das Publikum im Westen. Ist Taliban-Führer Mullah Omar verhandlungsbereit oder nicht? Will Dubai vermitteln? Mischt sich Saudi-Arabien ein? Wie weit gehen die Avancen von Präsident Obama? Sein ranghöchster diplomatischer Emissär hat gerade im äußersten Westen des Landes, in Herat, ein sogenanntes "Lincoln Center" eröffnet. Eine Bibliothek, in der jetzt es sechs Computer gibt und Internetanschluss. Immerhin. Im Unterschied zu den Deutschen, die hier vor drei Jahren auch einmal ein Kulturforum einrichten wollten, aber den Erfolg schuldig blieben, meinen die Amerikaner es ernst.
Hilft das bei den Afghanen? "Lehren Sie, dass es für jeden Feind auch einen Freund gibt", zitiert der US-Diplomat in Herat zur Feier des Tages aus einem Brief Abraham Lincolns an die Lehrer seines Sohns. Wer Freund und wer Feind ist, das wüssten die Afghanen gern angesichts des immer unerbittlicher geführten Krieges in ihrem Land.
Von den ISAF-Verbänden erhielten sie zu wenig Schutz, so die fast einhellige Meinung. Vielmehr müsse man das Aufkreuzen des internationalen Militärs fürchten, immer wieder kämen Zivilisten bei Luftangriffen ums Leben. Da weder die afghanische Armee noch die Taliban über Militärjets verfügen, ist die Lufthoheit von US-Armee und NATO ein zweifelhaftes Privileg.
Wen hat das Militär hier gesucht?
Ein Beispiel: 40 Kilometer südlich von Herat hat das internationale Militär vor Monatsfrist mit Verspätung eingestanden, dass bei einem Angriff statt der vermuteten Taliban zahlreiche Zivilisten getötet wurden. Ort der Handlung war ein Niemandsland aus Schutt und Geröll. Mehr als ein Dutzend Nomaden kamen vor und in ihren Zelten zu Tode. So jedenfalls beschreibt es Rateb Azimi, der Angehörige der Opfer aufgesucht hat. "Unzufriedenheit und Hass der Menschen wachsen, weil ihnen weder das ausländische Militär noch die afghanische Regierung eine Begründung oder gar Entschuldigung für den Tod so vieler Unbeteiligter liefern."
Ratebs Familie genießt Ansehen in Herat, sein Wort gilt etwas, manchmal zumindest. An diesem Morgen fährt er mit drei Tonnen Hilfsgütern im Auftrag der deutschen Hilfsorganisation DAI in die Nähe von Karez Soltan, dem Tatort. "Ich sah Kadaver von Kamelen und Eseln, die von Sand bedeckt, aber noch gut sichtbar waren." Die siedelnden Nomaden habe der Angriff am Morgen gegen 4.30 Uhr ereilt. Noch am gleichen Tag sei ihm die Liste der Opfer am Telefon durchgegeben worden, so Rateb. "Abdul Kahleq, 35 Jahre alt, Isa'abad, sein Sohn, 15 Jahre, Abdul Khaleq 12 Jahre. Die Frauen: Nabad, 50, Aarzoo, 30, Zahra, 7 Jahre, Fatema, 3, Kathima 1 Jahr", liest er seine Aufzeichnungen vom Blatt ab.
Angehäufte Steine und Stöcke mit bunten Stofffetzen am oberen Ende bilden die frische Grabstätte. Wen hat das Militär hier gesucht? Einen Taliban, glaubt man dem groben Raster westlicher Nachrichten-Agenturen, doch weiß man, in der Gegend um Karez Soltan ist der Ex-Mujahedin und ehemalige Leiter des Straßenbauamtes von Herat, Yahya Siashani, mit seinem bewaffneten Anhang unterwegs. Weil ihn der vormalige Gouverneur entlassen hatte, sinnt er auf Rache. Es heißt, Siashani sei verantwortlich für die so genannten Night Letters, Flugblätter, in denen die Bevölkerung vor Kontakten mit ausländischen Hilfsorganisationen gewarnt wird.
Ganz so unzugänglich und brutal, wie er von den Medien beschrieben werde, sei Yahya Siashani nicht, weiß Rateb zu erzählen, sondern vielmehr tief in seinem Stolz gekränkt. Und das ist in Afghanistan oft entscheidend.
Ob und inwieweit Siashani mit den Taliban in Verbindung steht, ist schwer herauszufinden. Nur in einem gibt es keinen Zweifel, afghanisches Militär wie ISAF-Verbände haben die Jagd auf ihn verschärft haben. Direkt neben dem Grab der Nomaden, steht das Wrack eines ausgebrannten Landrovers, in dem er offenbar vermutet wurde. Siashani meldete sich nach dem Luftangriff per Telefon bei einem Radio-Sender, Teil eines Katz-und-Maus-Spiels zwischen den Bergen und Tälern West-Afghanistans, das die ausländischen Soldaten kaum gewinnen können.
Failed State und Failed Aid
Rateb ist ein Afghane, der lange in Deutschland gelebt hat und dort wie hier gleichermaßen zu Hause ist. Er beobachte einen Stimmungsumschwung in der Bundesrepublik. "Neuerdings scheinen viele zu glauben, die Bundeswehr stehe in Afghanistan an vorderster Front, als holten deutsche Soldaten für die Afghanen die Kastanien aus dem Feuer." Das Gegenteil sei richtig. "2008 wurden fast 7.000 afghanische Soldaten schwer verwundet, 1.300 Polizisten starben und drei Mal so viel afghanische Soldaten." Im Verhältnis dazu sei die Zahl der NATO-Gefallenen gering. Dies – so Rateb – sei ein afghanischer Krieg, weshalb man afghanische Polizei und Armee umgehend besser ausrüsten und bezahlen müsse. "500 Dollar im Monat statt der 60 bis 120 bisher." Die Taliban würden für die Religion kämpfen, für Afghanistans Armee und Polizei müsse angesichts eines schwindenden Nationalgefühls zumindest das Geld stimmen.
Zufall oder nicht meldet sich zeitgleich der neue Afghanistan-Beauftragte der französischen Regierung, Pierre Lelouche, zu Wort und meint, seit dem Sturz der Taliban 2001 sei das "Wirken des Westens" in Afghanistan ein "vollkommenes Chaos". Sowohl im militärischen wie zivilen Bereich gelte es, "alles von Grund auf zu überdenken". Selten ist der Zusammenhang zwischen "Failed State" und "Failed Aid" so schonungslos angesprochen worden. Aber was tun?
Herats Gouverneurs gibt sich sarkastisch, als er in seiner Residenz empfängt. "Wir haben beschlossen, nicht zusammenzuarbeiten", kommentiert Yosof Norrestani die Verständigung zwischen afghanischen Autoritäten und internationalen Streitkräften. Aus diesem Satz lässt sich viel herauslesen – vor allem wohl der Ärger, regelmäßig bei Entscheidungen übergangen zu werden und dadurch auf eine bessere Kooperation zu verzichten. "Tatsächlich gibt es für ganz Herat keine langfristige Strategie", meint der Mitarbeiter einer deutschen Hilfsorganisation. Mit den afghanischen Behörden stimmen man sich seit Jahren nur über die Nothilfe ab. So im Winter, als viele Menschen durch einen Kälteeinbruch hungerten und starben. Bei anderen wichtigen Projekten aber herrsche Fehlanzeige. Eigentlich sei es Aufgabe von UNDP, des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, die verschiedenen Akteure an einen Tisch zu bringen und einen Plan zu entwickeln, aber das geschehe nicht.
Mangel an Zusammenarbeit; fehlende Transparenz der Geberländer im Umgang mit Afghanistan; Hinweise über Milliarden-Hilfen, die nicht, zu spät oder falsch eingesetzt werden. Vor diesem Hintergrund droht die internationale Kritik an Präsident Karzai zum Bumerang zu werden. Nicht zuletzt müsste der Westen sich selbst vieler Versäumnisse bezichtigen.
Martin Gerner ist freier Journalist und seit 2004 im Bereich der internationalen Entwicklungshilfe in Afghanistan tätig.
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