Die Gunst der Stunde

Israel Premierminister Benjamin Netanjahu begründet die auf Januar 2013 vorgezogene Neuwahl mit einem Haushaltsstreit. Doch das alles beherrschende Thema ist Iran
Hat Benjamin Netanjahu schon gewonnen, bevor er überhaupt antritt?
Hat Benjamin Netanjahu schon gewonnen, bevor er überhaupt antritt?

Foto: Gali Tibbon/AFP/Getty Images

"The hour is getting late. Very late.“ Benjamin Netanjahus dröhnende Worte gegen Iran vor der UN-Vollversammlung hallten noch nach, als der israelische Premier jetzt Neuwahlen ankündigte. Als Grund für die Parlamentsauflösung nannte Netanjahu Uneinigkeit seiner Koalition über den Haushaltsentwurf. Doch tatsächlich geht es um weit mehr. Der Atomkonflikt mit Teheran dürfte das zentrale Wahlkampfthema werden.

Kaum ein politischer Analyst in Israel sieht derzeit ernsthafte Konkurrenten, die Netanjahu die Wiederwahl streitig machen könnten. Der Mitte-Links Block gilt als stark geschwächt und ohne einen Kandidaten, der die Kräfte der Opposition bündeln könnte. Die meiste Unterstützung als Gegenkandidatin für Netanjahu hätte laut jüngsten Meinungsumfragen die ehemalige Vorsitzende der zentristischen Kadima-Partei, Zipi Livni. Doch hat sie sich aus der Politik zurückgezogen, seit sie im März den Parteivorsitz an Schaul Mofas abgeben musste. Die Kadima, 2009 noch stärkste Partei, ist mittlerweile in der Wählergunst abgestürzt und rangiert in Umfragen nur noch auf Platz 6.

Außer Livni könnte wohl nur einer die Kadima wiederbeleben: Ex-Premier Ehud Olmert. In den aktuellen Meinungsumfragen belegt er den dritten Platz. Allerdings ist Olmert erst kürzlich von Korruptionsvorwürfen freigesprochen worden. Noch zögert er mit der Rückkehr in die Politik. Er gilt als einziger Politiker des Mitte-Links-Lagers, der in der Lage wäre, Netanjahu in Sicherheitsfragen Paroli zu bieten. So vermutet der Kommentator Ben Kaspit in der Tageszeitung Maariv, ein baldiges Wiedereintreten von Olmert in die Politik sei Netanjahus größte innenpolitische Sorge – und der eigentliche Grund für die vorgezogenen Wahlen.

Schwächer, isolierter

Netanjahu jedenfalls setzt ganz auf die iranische Karte. Bei der Wiederöffnung der Knesset nach der Sommerpause erklärte er die Bedrohung durch das iranische Atomprogramm zur größten Herausforderung für Israels Sicherheit seit der Gründung des Staates. „Jeder, der diese Gefahr verharmlost, ist nicht wert, den Staat Israel auch nur für einen Tag zu regieren“, verkündete der Regierungschef.

Kadima-Führer Mofas hielt entgegen, Netanjahu versuche die Bevölkerung mit dem Iran-Thema einzuschüchtern. Nicht Israel alleine, sondern die gesamte westliche Welt sei dafür verantwortlich, Iran von Atomwaffen abzuhalten. Er fügte hinzu, Israel sei heute „schwächer, isolierter, innerlich gespaltener, verängstigter und hungriger“ als zuvor.

Doch Netanjahu kann sich bei seiner Iran-Politik der Unterstützung der israelischen Mehrheit sicher sein. Eine Karikatur der Tageszeitung Haaretz zeigt ihn, wie er die neben sich stehenden Kandidaten der anderen Parteien überragt – weil er auf den Schultern von Mahmud Ahmadinedschad sitzt. Es ist eine treffende Karikatur, die man aber auch umdrehen könnte: Ahmadinedschad auf den Schultern Netanjahus. Denn so sehr die Regierungschefs Israels und Irans als Antagonisten wahrgenommen werden: Sie bilden auch eine Symbiose. In der innenpolitischen Arena ihrer Länder dient der jeweils andere auch dem eigenen Machterhalt. Der Konflikt bestimmt in beiden Ländern den Diskurs.

Im Sommer letzten Jahres gingen bei den größten Massenprotesten in der Geschichte Israels Hunderttausende auf die Straßen, um gegen hohe Preise und die Spaltung der Gesellschaft zu demonstrieren. Der Konflikt um das iranische Atomprogramm spielte dabei keine Rolle, die Unzufriedenheit war einzig gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Netanjahu gerichtet.

Geändert hat sich seitdem kaum etwas an den sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen. Die Lebenshaltungskosten sind nach wie vor sehr hoch, sie betragen etwa das Doppelte des westeuropäischen Durchschnitts. Die Löhne sind dagegen sogar etwas niedriger als in Westeuropa und stagnieren zudem seit Jahren. Die Regierung Netanjahu kümmert sich darum wenig. Sie macht weiter Klientelpolitik mit Subventionen für Siedler im Westjordanland und Steuererleichterungen für Großkonzerne. Und trotzdem sind die Demonstranten verschwunden. Nur in einem weitläufigen Park in der Nähe des Hauptbahnhofs in Tel Aviv stehen noch ein paar Zelte, eine blasse Reminiszenz an den kraftvollen Sommer vor einem Jahr.

Sicher mit „Bibi“

Auch in Iran ist die Opposition inzwischen geschwächt und maximal kontrolliert, nachdem sich die Unzufriedenheit in den Großdemonstrationen des Sommers 2009 entlud. Der Protest richtete sich gegen die vermutete Wahlfälschung zugunsten von Ahmadinedschad und das Fehlen von bürgerlichen Freiheiten. Der Konflikt mit Israel und das eigene Atomprogramm interessierten nur am Rande – oft in Form eines ironischen Seitenhiebs: „Das unveräußerliche Recht Uran anzureichern, ist das einzige unveräußerliche Recht, das wir Iraner zur Zeit haben.“ Anders als eineinhalb Jahre später in Ägypten und Tunesien scheiterte der Protest der frustrierten jungen Generation im Iran.

Nun dominiert in beiden Ländern der Eindruck verschärfter Kriegsrhetorik von israelischen und iranischen Politikern. In Israel bestimmen Angriffsszenarien die Berichterstattung in den Medien, und bei vielen Bürgern findet der alarmierende Unterton Widerhall. Nach einer Umfrage für Haaretz vom September hat jeder zweite Angst um den Fortbestand des Staates Israel, sollte es zum Krieg mit Iran kommen.

Angesichts dieser Krisenstimmung sitzt Netanjahu heute fester im Sattel als vor einem Jahr. Die ökonomischen Härten sind nicht vergessen, doch was die Sicherheit des Landes angeht, gilt „Bibi“ vielen Israelis als die richtige Wahl. Berichte aus Iran deuten auf eine wachsende Kriegsangst auch dort – und auch dort bringt das den Machthabenden willkommene Ablenkung von der wirtschaftlichen Lage. Der Rial verfällt rasant, die Preise steigen. Unter anderem wegen der westlichen Sanktionen wird die Situation immer prekärer.

So nützt die Kriegsgefahr – so real sie auch sein mag – derzeit in beiden Ländern dem Machterhalt der Regierenden. Der Konflikt nährt sich selbst: Es entsteht eine Logik der scheinbar unausweichlichen Konfrontation.

Nicht alle aber nehmen dies einfach hin. Ronny Edry, Grafikdesigner aus Tel Aviv, aktivierte mit seiner im März gestarteten Internet-Kampagne „Israel loves Iran“ binnen weniger Tage Zehntausende Anhänger in Israel. In Iran reagierten Blogger, Oppositionelle und Aktivisten. Mittlerweile fahren 60 Busse mit Fotos von Iranern und Israelis und den simplen Slogans „Iranians – we love you!“, „Israelis – we love you!“ durch Tel Aviv.

Noch fehlt der Kampagne das politische Programm. Die Netz-Kommunikation zwischen der iranischen und der israelischen Zivilgesellschaft bleibt mühsam. Im Iran gibt es kaum effiziente Kommunikationskanäle, an öffentliche Sympathiebekundungen für die „zionistische Entität“ ist nicht zu denken. Und doch könnte die Vision der Kampagne für einen konfliktfreien Nahen Osten mehr sein als nur ein illusionäres Hirngespinst von Friedensbewegten.

Der Dialog der Zivilgesellschaften beider Länder könnte die bestimmende Rolle der Konfrontationslogik untergraben. Immerhin setzt die Kampagne bereits einen Gegenimpuls. In Berlin gingen bereits Iraner und Israelis zusammen gegen einen Krieg ihrer Länder auf die Straße. Aus der iranischen Diaspora, die keine Cyberwalls umgehen muss, werden wiederum Diskurse in die Heimatgesellschaft getragen.

Diese Diskurse funktionieren erst spärlich. Es gibt jedoch Möglichkeiten: Europäische Stiftungen oder Universitäten, Journalisten oder Aktivisten, die Kontakte in beide Länder haben, können dazu beitragen, neue Kanäle zu öffnen. Und die Forderungen auszuweiten, etwa zu einer Initiative für eine atomwaffenfreie Zone im Mittleren Osten. Interessanterweise war es 1974 die iranische Regierung, die diese Forderung zum ersten Mal formulierte. Für Dezember lädt die finnische Regierung in Helsinki auf Auftrag der Vereinten Nationen Diplomaten aus der Region ein, um dieses Ziel wiederzubeleben.

Wie wäre eine Großdemonstration in Teheran und Tel Aviv für eine solche atomwaffenfreie Region? Das klingt derzeit unrealistisch – muss es aber nicht sein. Schenkt man „Bibi“ Glauben in seiner Einschätzung, dass es fünf vor zwölf ist, dann sollte man die Zeit nutzen.

Martin Hoffmann ist freier Korrespondent in Kairo. Gerade ist er von einer Recherchereise nach Israel zurückgekehrt

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