Prototyp eines alternden Wunderkinds

Nachruf Der Schriftsteller Martin Jankowski erinnert sich an den Liedermacher Kurt Demmler - Star seiner Kindheit, bald Nachbar, dann wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt

Am Dienstag, dem 3. Februar vormittags, melden die Nachrichten, dass sich Kurt Demmler in der Untersuchungshaftanstalt Berlin Moabit erhängt hat. Ich habe ihn zum letzten mal am 30. September 2008 getroffen, als wir anlässlich des Internationalen Literaturfestivals Berlin eine unserer Gefängnislesungen von „Literatur hintern Gittern“ in Moabit veranstalteten. Wir machen diese literarischen Abende seit sieben Jahren und sie sind immer besonders schön. Es gibt in Moabit eine kleine Gitarrenband, die jedes mal Musik macht, wenn wir kommen. Die Lesungen werden so zu wirklichen kleinen Festivalereignissen – ungewöhnlich auch für deutsche Knäste.

Der Mann mit der Mundhamonika

Dieses mal war in der Band ein Mann mit von der Partie, denn ich kannte: Kurt Demmler. Er machte einen seltsam abgeklärten, tief melancholischen Eindruck und spielte die Mundharmonika. Ich war ehrlich gesagt nicht sehr überrascht, ihn hier zu sehen. Er erkannte mich erst, als ich mich vorstellte. Aber dann mussten wir nicht mehr viele Worte wechseln. Er wusste, dass ich ja ahnte, weswegen er in U-Haft saß. Um ihm zu zeigen, dass ich ihn trotz allem respektierte und mich freute, gemeinsam mit ihm diesen Abend zu gestalten, stellte ich ihn den anderen mit den Worten vor: „Dies ist ein Mann, dessen wunderbare Lieder ich schon als Abiturient mit Begeisterung nachspielte und verehrte.“ Ohne zu Lächeln murmelte Kurt Demmler in seinen ungepflegten Gefängnisschnurrbart: „Wenigstens einer, der das hier zu schätzen weiß.“ Aber ihm war klar, dass es mit meiner Verehrung für ihn schon eine Weile her war und dass es seitdem auch eine andere Begegnung gegeben hatte.

Von Kurt Demmler hörte ich zum ersten mal als Schulkind, aber lange bevor ich seinen Namen kannte, kannte ich seine Lieder: jeder Mensch kann jeden lieben, also was soll aus mir werden, dieses Lied sing ich den Frauen, du hast den Farbfilm vergessen, Gänselieschen, irgendwann werd ich mal, König der Welt, nämlich bin ich glücklich, tritt ein in den Dom, wer die Rose ehrt … Die Liste seiner wirklich genial getexteten Songs wird hunderte Titel lang sein. Und für zig andere Sänger und Gruppen in Ost und West hat er seit seinem Aufstieg den siebzigern Sachen geschrieben, die zu dem besten gehörten, was man von denen kannte – ohne zu ahnen, dass es von ihm stammte. „Sensibles, schrullenhaftes und privat schwer zu ertragendes Hochtalent …“, nannte ihn DDR-Text-Oberaufseherin Gisela Steineckert – und hatte damit wohl ausnahmesweise einmal recht.

Die Lieder des kleinen Prinzen

Als 1985 eine Platte demmlers mit dem Titel „die Lieder des kleinen Prinzen“ erschien, bei der neben Demmler eine junge, angeblich dreizehnjährige Sängerin mitsang, hörte ich zum ersten mal von den Gerüchten, dass Demmler eine krankhafte Neigung habe und dafür seine Rolle als Superstar der DDR-Musikszene auszunutzen verstand: es hieß, er locke seit Jahren junge Teenager-Mädchen zu Castings und Privatunterricht in sein Hausstudio. Ich hielt das für möglich, dachte aber, dass es sich genauso gut um missgünstigen Klatsch handeln sein könne. Erfolgreiche Talente wie Demmler gab es nicht viele in der grauen DDR. „Die Lieder des kleinen Prinzen“ wurden wie vieles vorher sehr, sehr erfolgreich. Aber weil mir das Thema, Saint Exuperys Kleiner Prinz, allzu verbraucht erschien und die Absicht, damit kommerziell erfolgreich sein zu wollen, zu offensichtlich, interessierte ich mich nicht mehr für Demmler: Ich war inzwischen selbst Sänger – mit eigenen Songs und eigenen Konzerten und lebte ein aufregendes Leben: ohne Auftrittsgenehmigung im Untergrund des Ostens. Eigentlich sang ich nur meine eigenen Songs, aber neben einigen Brecht- und Villon-Vertonungen hatte ich noch ein einziges anderes fremdes Lied im Programm, "Bin ich glücklich", Text Kurt Demmler. Es ist bis heute eines meiner Lieblingslieder.

Dann kam der von mir lang ersehnte Umsturz im Lande und ich hörte nichts mehr von Demmler. Ich zog aus der Heldenstadt Leipzig in die Brandenbrugische Kleinstadt Fürstenwalde, wo ich zu Beginn der neunziger Jahre an der dortigen Kulturfabrik unter anderem eine Theatergruppe zu leiten begann. In den Lokalzeitungen standen Aufrufe an Interessierte. Es erschien ein Mann, der schweigsam und zugleich selbstbewusst auftrat und mir seltsam bekannt vorkam. Er stellte sich als Kurt Demmler aus dem Nachbarort Storkow vor, ohne mehr über sich zu erzählen. Er sagte, er hätte ein Libretto für ein Singspiel fertig und würde es gerne mit uns erarbeiten und aufführen. Wir lehnten das ab.

Begegnung in Brandenburg

Nun gab es in der Gruppe ein Mutter-Tochter-Gespann, die beide echte Bühnentalente und bislang bei uns eindeutig unterfordert waren. Bisher hatten wir vor allem immer Mühe gehabt, für die quirlige dreizehnjährige Tochter passende Rollen bei unseren Projekten zu finden. Als sich aber die Gruppe das nächste mal traf, hatten Mutter und Tochter einen Vorschlag: Sie hätten mit Kurt Demmler geredet, die Tochter könne die Hauptrolle in dem neuen Singspiel erhalten (Arbeitstitel „Julia in der Geisterbahn“), Kurt Demmler wäre bereit, ihr dafür kostenlos intensiven Gesangsunterricht zu geben und in seinem Heimstudio in seiner Storkower Villa sogar ein paar Aufnahmen mit ihr zu produzieren. Bevor das Mädchen erstmals zum Einzelunterricht in die Demmlersche Villa fuhr, erzählte ich ihrer Mutter von den Gerüchten über Demmler. Sie sagte, sie wollte vorsichtig sein, ihrer Tochter die verlockende Chance aber nicht verbauen. Drei Wochen später sagte sie, dass ihre Tochter nicht mehr nach Storkow fahren würde.

Ich hörte dann nur noch Andekdoten über Demmler: Von meinem Freund Knut, der als Betreuer in einem Storkower Behindertenheim arbeitete, dessen Garten an das Grundstück der Demmlerschen Waldvilla grenzte, wo Demmler ein offenbar recht einsames Leben in Gesellschaft seiner Boxerhündin führte und nur von Zeit zu Zeit neue Gäste in sein Reich einlud, die aber offenbar nicht oft wiederkamen. Demmler tat mir damals schon leid. Er erschien mir wie der Prototyp eines alternden Wunderkinds, das seine besten Zeiten hinter sich hatte. Aber welche Chancen hatte ein DDR-Liedermacher im vereinten Deutschland, dessen Karriere einst in der Singebwegung und ihrer bekanntesten Gruppe, dem Oktoberclub, begonnen hatte? Von seinem einstigen überwältigenden Ruhm war nach der Wiedervereinigung so gut wie nichts mehr übrig. Und alle, die ihn einst mit ihm geteilt hatten, kämpften nun selbst um ihre Existenz und Künstlerwürde.
Auch ich gab in dieser Zeit meine Sängerträume endgültig auf, zog nach Berlin und wurde Schriftsteller. Von Kurt Demmler hörte ich gar nichts mehr. Bis ich ihn im September letzten Jahres zu unserer alljählichen „Literatur hinter Gittern“ in der JVA Moabit wiedertraf. Nach diesem letzten Treffen und den beiden kurzen Gesprächen, die wir, zum Teil unter vier Augen, an diesem Tag führten, bin ich überzeugt, dass die Vorwürfe gerechtfertigt waren, auch wenn er nichts eingestand.

Bruchstücke des Demmlerschen Lebens

Die Nachrichten melden: „Am heutigen Dienstag um 13 Uhr sollte der Prozess wegen Kindesmissbrauchs gegen Demmler am Berliner Landgericht fortgesetzt werden. Ihm wurde vorgeworfen, sechs Mädchen im Alter von zehn bis 14 Jahren sexuell missbraucht zu haben. Zu den Übergriffen soll es in Demmlers Wohnung in Prenzlauer Berg und in seiner Villa in Storkow in Brandenburg gekommen sein. Insgesamt soll es von August 1995 bis November 1999 zu 212 Übergriffen gekommen sein.“

Wenn ich von dem ausgehe, was ich von Kurt Demmler weiß, ist es möglich, dass diese Anklage nur ein Teil der Wahrheit über Kurt Demmler wäre. Nun wird all dies für immer im Dunklen bleiben. Aber wie nach einem gewaltigen Ausbruch treiben die Bruchstücke des Demmlerschen Lebens nun noch in den Köpfen und Herzen der zahllosen Leute, die ihm und seinen Ideen begegneten, noch herum. Was geschehen ist, wühlt mich auf und stimmt mich nachdenklich, vor allem auch, weil ich weiß, dass sexuelle Straftaten von den meisten um mich herum als schlimmer empfunden werden als Mord. Und dennoch muss ich sagen, dass sich heute morgen, am 3. Februar 2009 um 6:20 uhr in Moabit der vermutlich beste und produktivste Songschreiber der ost-deutschen Nachkriegsgeschichte erhängt hat.

, 43, wuchs in Gotha auf und gehörte in den achtziger Jahren als Lyriker und Sänger zur oppositionellen Szene. Neben zahlreichen Songs, Gedichten und Erzählungen veröffentlichte er auch Bühnentexte, Essays und einen Roman. Jankowski lebt derzeit in Berlin

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