Würden in Irland nicht die 0,8 Prozent der EU-Bevölkerung leben, die zum Lissabon-Vertrag befragt wurden, wäre ich wohl nicht hingefahren. Die grüne Insel hatte mich nie sonderlich angezogen. Es war mein erster Besuch. Ich war nicht gerade bezaubert. Mein Urteil fiel vielleicht deswegen so hart aus, weil ich gerade aus der Schweiz kam. Irland sei das teuerste Land der Eurozone, warnte die Schweizer Presse, das Land sei nicht einmal für Schweizer billig. Ich begann unwillkürlich zu vergleichen. Allenfalls von der Pub-Kultur abgesehen, erreichte Irland in keiner Hinsicht die Lebensqualität der Schweiz. Befremdet beobachtete ich, dass sich irische Bahnreisende nach dem Kauf der Fahrkarte anstellen müssen, auf dem Bahnsteig, in langen Schlangen, entlang hoher Metallgitter. Erst wenn es die Obrigkeit gestattet, dürfen sie den Zug besteigen.
Dann das Essen. Für viel Geld kann man Glück haben, doch in den irischen Fast-Food-Ketten lässt sich von McDonalds als Feinkost träumen. Dazu die amerikanisch anmutende Zudringlichkeit, dass einen die Verkäufer bei der minimalsten Transaktion fragen: „How are you?“ Sie erwarten nichts weniger als eine Antwort. Eine Antwort würde sie sogar stören.
Schließlich der Anblick der irischen Immobilien. Man hat viel von ihnen gehört, ihre Preise stiegen zwischen 2000 und 2008 um 300 Prozent. Die Blase ist geplatzt, die Staatsschuld wird sich zwischen 2007 und 2013 vervierfachen. Der Anblick der Häuser erschreckte mich, immer noch schrie die alte irische Armut aus ihnen heraus. Überall Zäune und Mauern, die hohen grauen Gartenmauern hielten die Sonne aus winzigen Gärten fern. Ungläubig drückte ich die Nase an die Auslage eines Immobilienbüros: 370.000 Euro für eine kleine geduckte Kleinbürgerbaracke in der Provinz? Wie viel wollte der Besitzer vor der Krise? Sah so der „keltische Tiger“ aus? War alles nur Statistik?
Ich flog für sechs Euro nach Irland, mit Ryanair, dem Platzhirsch der europäischen Billigluftfahrt. Auf der Busfahrt von Shannon nach Galway war die westirische Landschaft postkartenähnlich. Die von pittoresken Steinwällen umschlossenen Weiden lagen wahrhaftig grün unter dem hermetisch bewölkten Himmel. Solange man kein Haus sah, war es schön. Gleichsam zur Beweisführung für das milde Klima war vor manches westirische Anwesen eine Palme gepflanzt. Gewiss bewahrt sie der Golfstrom vor dem Erfrieren. Ich würde nicht sagen, dass die Palmen gedeihen, doch sie harmonieren bestens mit den Immobilien dahinter.
Wenigstens pflegen die Iren, um einmal etwas Gutes zu sagen, die europäische Demokratie. Einst von einem klagenden Bürger erstritten, wird seit 1987 jeder europäische Vertrag einem Referendum unterworfen: Einheitliche Europäische Akte, Maastricht, Amsterdam, zweimal Nizza-Vertrag, zweimal Lissabon-Vertrag. Nach dessen Ablehnung im Vorjahr stritt nun das versammelte Establishment der Republik für ein Ja: die seit der Krise verhasste Regierungspartei Fianna Fail, die mitregierenden Grünen, sichtbarer noch die Oppositionsparteien Fine Gael und Labour. Die linken Vertragsgegner von der Sozialistischen Partei griffen die Verbindung des Ja-Lagers mit so genannten „Fat Cats“ des Big Business an. Man konnte kaum etwas dagegenhalten, denn der für seine Auffassung von Arbeitnehmerrechten berüchtigte Billigflieger Ryanair schaltete ganzseitige Inserate, ebenso wie Intel. Die junge Liebe des US-Chip-Konzerns zum EU-Vertrag von Lissabon hätte man früher versuchte Schutzgeldzahlung genannt. Intel wurde soeben wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung zu einer Milliardenstrafe verurteilt – von der Europäischen Kommission.
Der große Hunger
Ich kam am Tag vor der Abstimmung in Galway an. Andere Nachrichten drängten sich bereits in den Vordergrund: eine Schlange von 600 Arbeitslosen vor der Handelskette Marks Spencer, die bloß ein paar Aushilfen für das Weihnachtsgeschäft suchte; fünf Lamas waren einem Zirkus entflohen und blockierten die Dubliner Ringautobahn. Ich besuchte in Galway drei Mal denselben Pub. Was mir die Leute vor, während und nach der Abstimmung erzählten, war immer größer als ein Vertrag, dessen staats-, militär- und sozialpolitische Auswirkungen am Ende wohl von Gerichten ausgelegt werden dürften. Den Männern ging es oft um nationale Souveränität oder darum, „was Europa für Irland getan hat“. Ein junger Lehrer erklärte mir tief in der Nacht die irische Seele. Die Iren würden nur im Pub reden, meinte er, das Mittagessen nehme man schweigend ein. Das habe mit dem Trauma der großen Hungersnot zu tun. Die Jahrhunderte der Armut seien auch dafür verantwortlich, dass die Iren „von Wohneigentum besessen“ seien.
Eine junge Frau riet mir, ich sollte „niemals shoppen und trinken“. Sie hatte getrunken und den Urnengang verpasst. Sehr lange mühte sie sich, ihren Pullover überzuziehen. „Der Lissabon-Vertrag ist verlogen“, sagte sie währenddessen, „niente“. Die meisten meiner Gesprächspartner wollten mit Nein stimmen. Als jedoch das Staatsfernsehen um elf Uhr des folgenden Tages die Berichterstattung aufnahm, stand das Ja bereits fest.
Am Auszählungstag fuhr ich nach Dublin, um dort ins Hilton zur Siegesparty der Ja-Organisationen Ireland for Europe und Generation Yes zu gehen. Der Saal atmete die Euphorie eines unerwartet deutlichen Ergebnisses, statt der 47 Prozent von 2008 hatten sich nun 67 Prozent für den Vertrag erwärmt. Aus Deutschland waren Kampagne-Helfer von den Jungen Liberalen da. Sie hatten auch schon in Taiwan und Aserbaidschan geholfen.
Ein irischer Beamter der EU-Kommission, der nach eigener Bekundung zwei Jahre lang die immer gleichen Beteuerungen wiederholt hatte, machte sich locker. Er fände es lustig, sagte er, wenn am Montag nach dem Referendum der Kommissionspräsident verkünden würde: „Danke für das Ja, wir fangen jetzt mit der Einziehung von Wehrpflichtigen aus Irland an. Und Abtreibung wird verpflichtend, rückwirkend auf fünf Jahre.“ Erst jetzt konnte er darüber lachen, dass ihn ein deutscher Diplomat vor dem Referendum angegriffen und erklärt hatte, „die Iren würden Europa nur aufhalten“.
Wie ein Tsunami
Eine junge Mitarbeiterin der EU-Kommission, eine verblüffend irisch aussehende Deutsche mit Stuttgarter-Bremer-Berliner Lebenslauf, raubte mir im Hilton kurz den Atem. Sie lobte ausdrücklich, dass die irische Bahn ihre Fahrgäste auf dem Bahnsteig in Warteschlangen zwingt. „Das sollte man auch in Deutschland einführen. In Deutschland herrscht beim Einsteigen das reine Chaos.“
Der Leiter der Ja-Kampagne hielt eine Rede. Pat Cox, erst Fernsehansager, dann Präsident des Europäischen Parlaments, jetzt Kommunikationsberater der Brüsseler Verbraucherschutzkommissarin, Ratgeber der Konzerne Michelin, Pfizer und Microsoft und freundlich der Brüsseler Lobby-Firma APCO verbunden. Sein Auftritt war feurig. Die Kampagne sei „wie ein Tsunami“ durchs Land gezogen, sagte er. „So etwas wie die Seele Irlands“ habe auf dem Prüfstand gestanden.
Die zweite Nachricht des Tages war, dass die fünf Lamas neuerlich verschwunden waren. Man hatte sie am Vortag von der Autobahn geholt und in ein kommunales Gehege gebracht. Nun waren sie wieder weg. Auch einige Ziegen hatten sich diesmal angeschlossen. Die Iren hingegen sagten nur einmal nein zum Lissabon-Vertrag. Beim zweiten Mal ließen sie sich von fetten Katzen fangen.
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