Irgendwann musste die Party zu Ende gehen. Ein Jahr lang hat sich die bis dahin weitgehend unbekannte Ukraine im Glanz der internationalen Wahrnehmung gesonnt: Die Popsängerin Ruslana gewann mit den gestampften Rhythmen der Huzulen den Grand Prix d´Eurovision, der bei Inter Mailand verpflichtete Legionär Andrej Schewtschenko wurde zum besten Fußballer Europas gewählt, und die Orange-Revolution des Winters 2004 bescherte dem Land die Sympathien des Westens.
Irgendwann musste die Normalität wieder Platz greifen, es überraschen am Ende das Tempo und die Schärfe, mit der die Protagonisten des Wechsels im offenen Zerwürfnis gelandet sind. Nach dem Prinzip "Wer bietet mehr?" prügeln einander die rivalisierenden Lager mit unbewiesenen Korruptionsvorwürfen, nur noch übertrumpft vom Vorwurf eines Mordkomplotts gegen die nunmehr abgesetzte Premierministerin Julia Timoschenko.
Schokoladenbaron und TV-Unternehmer
Bis zum 5. September wurde der Kampf um die Neuverteilung der industriellen Substanz der Landes vorwiegend hinter den Kulissen ausgetragen. An jenem Tag aber trat Aleksandr Sintschenko, der Chef der Präsidialadministration, unerwartet zurück, nicht ohne im Abgang einige Namen aus der Umgebung Viktor Juschtschenkos zu nennen, unter deren Patronat die Korruption schlimmere Ausmaße angenommen habe als zu Zeiten des mafiösen Staatschefs Leonid Kutschma. Hauptziel der Angriffe, die seit längerem auch von diversen Medien ausgehen: Petro Poroschenko, Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, Oligarch, Schokoladenbaron und TV-Unternehmer, Taufpate einiger Kinder Juschtschenkos.
Das Parlament entzog Poroschenko kurzerhand das Mandat. Die Regierungschefin erhob ihrerseits Anschuldigungen gegen ihren Intimfeind, der das eigens für ihn geschaffene Amt des Sicherheitssekretärs dazu benutzt habe, seine weitverzweigten Geschäfte bis nach Moldawien voranzutreiben. Kurz darauf war der Konflikt zwischen beiden Lagern so weit eskaliert, dass der um Vermittlung bemühte Präsident die Kontrahenten nicht einmal mehr zu einem Handschlag nötigen konnte. Also enthob er - um keine "Disbalance" aufkommen zu lassen - am 9. September alle Beteiligten ihrer Ämter.
"Es ist stets dasselbe: Immer wenn ich hochfliege, holt man mich herunter", klagte die energetische Schönheit Timoschenko und kündigte an, mit ihrem eigenen Block bei den im März 2006 anstehenden Parlamentswahlen anzutreten. Daraufhin zerschnitt der Präsident endgültig das Tischtuch, indem er der Unbotmäßigen vorwarf, sie habe das Regierungsamt dazu missbrauchen wollen, ihr ehemaliges Unternehmen Vereinigte Energiesysteme der Ukraine von Schulden in der Höhe von 1,3 Milliarden Euro zu befreien.
Hat Juschtschenko aus Eifersucht diesen Bannstrahl geschleudert? Konnte er nicht länger ertragen, dass die medial dauerpräsente Timoschenko, die sich selbst als "Maschine zum Fällen von Entscheidungen" bezeichnet, ihm die Show stahl?
Tatsächlich hat die Juschtschenko-Rivalin in den ökonomisch recht glücklosen sieben Monaten ihrer Regierung erreicht, was noch vor einem Jahr undenkbar schien: Sie wurde zur populärsten Politikerin des Landes. Bei einer Umfrage im August gaben nur noch 36 Prozent der Ukrainer an, ihrem Präsidenten zu vertrauen, doch 42 Prozent lobten Timoschenko. Ein spektakulärer Wert für eine ehemalige Oligarchin, an der bis heute der Ruf klebt, in den Neunzigern mit unseriösen Energiegeschäften reich geworden zu sein.
Nach der erfolgreich durchstandenen Revolution mit einer beinahe irrealen moralischen Autorität ins Amt geraten, hat Juschtschenko seither mit einer geradezu verbiesterten Konsequenz daran gearbeitet, das Vertrauen der Ukrainer zu enttäuschen. Schon seine Aufteilung von Regierungsämtern ließ die "Trennung von Business und Macht" vermissen, die er im Wahlkampf so treuherzig versprochen hatte. Und als die ihre gewonnene Freiheit in vollen Zügen genießenden Medien über die neureichen Eskapaden seines 19jährigen Sohnes Andrej berichteten, reagierte Juschtschenko, indem er die Aufklärer wüst beschimpfte.
Wie die spontane Entlassung sämtlicher Spitzen der Macht nun recht drastisch vor Augen führt, neigt der Präsident zu einem eher erratischen Regierungsstil. So löste er im Sommer mit einem Schlag die Straßenpolizei auf. Er tat dies nicht ohne Grund, denn die "Gaischtschiki" waren für beständiges Handaufhalten berüchtigt. Die überstürzte Auflösung verwandelte allerdings den gesamten Verkehr in eine rechtliche Grauzone. Wer fortan auf den Straßen der Ukraine unterwegs war, sah die grässliche Fratze der Anarchie.
Im Übrigen bleibt den Anhängern des von Chlorakne gezeichneten Präsidenten unverständlich, warum der sich ein Jahr nach seiner so mysteriösen Vergiftung immer noch nicht von ukrainischen Ärzten untersuchen ließ, was eine gerichtliche Untersuchung überhaupt erst ermöglichen würde.
Auch das Verhältnis zu Russland bleibt belastet, nachdem Juschtschenko mit seinen Amtskollegen aus Georgien, Polen und Litauen einen Ostsee-Schwarzmeer-Bund ins Leben rief - eine von zahllosen überflüssigen Allianzen im GUS-Raum, die Moskau verärgert, ohne die gewünschte Annäherung an die EU wirklich zu befördern.
Amorph und undurchsichtig
Im Unterschied zu Juschtschenko schwang Timoschenko gern den eisernen Besen. Sie holte beträchtliche Steuermittel aus der - ihr vertrauten - Schattenwirtschaft, zwang die Zöllner, die früher zollpflichtige Waren gegen Schmiergeld gern durchwinkten, zum Einhalten der Tarife und sicherte dem Staat Mehreinnahmen von 70 Prozent. Die gewonnenen Gelder nutzte sie, um die mehr im symbolischen Bereich angesiedelten Renten und Staatsgehälter zu erhöhen. "In meiner Amtszeit ist das Einkommen der ukrainischen Haushalte um 43 Prozent gestiegen", rechnete Timoschenko zum Abschied vor. Empfindliche Preisschübe etwa bei Zucker und Fleisch sowie eine Aufwertung der Nationalwährung Griwnja fraßen freilich diese Wohltaten, die ihr den Vorwurf des Linkspopulismus einbrachten, gleich wieder auf. Den Ukrainern geht es jedenfalls nicht besser als vor der Revolution, das Wirtschaftswachstum hat sich von zwölf auf vier Prozent verlangsamt.
Als ihr größtes Verdienst empfand Timoschenko das Bemühen, eine "saubere Privatisierung" der ukrainischen Unternehmen durchzusetzen, die in den neunziger Jahren auf undurchsichtige Weise "entstaatlicht" wurden - pikanterweise unter der Mitverantwortung eines gewissen Jurij Jechanurow, der seinerzeit Chef des staatlichen Eigentumsfonds war. Der aus Russland stammende Jechanurow gilt inzwischen als Juschtschenkos designierter Premierminister.
3.000 Unternehmen sollten nach dem Willen Timoschenkos von den Gerichten überprüft und notfalls in Staatseigentum zurückgeführt werden, um sie neuerlich zu verkaufen. Juschtschenko ging diese Neuverteilung des Volksvermögens, die das ganze Land aufgewühlt hat, von Anfang an zu weit. Er nannte eine andere Zahl: Nicht 3.000 - nur 30 Firmen seien zu reprivatisieren.
Das neue Kabinett wird sich nun vermehrt auf die leiseren Kräfte aus Juschtschenkos eigener Partei sowie aus den Reihen der Sozialisten und der Volkspartei des allzeit geschmeidigen Parlamentspräsidenten Wladimir Litwin stützen. Die Orange-Revolution ist damit unwiderruflich vorbei - im September 2005 stellt sich die Ukraine wieder so amorph und undurchsichtig dar, wie sie bereits unter der Regentschaft des "multivektorell" agierenden Präsidenten Kutschma war. Das alte Prinzip "Zwei Ukrainer, drei Hetmans!" lebt unter einem offenkundig schwachen Präsidenten Juschtschenko wieder auf. Das zieht den Nachteil von Intransparenz und Korruption nach sich, birgt aber immerhin einen Vorzug: Zur Autokratie scheint das Land nicht länger begabt.
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