Die weißen Frauen der dunklen Männer

Brüssel Die meisten Prostituierten in der europäischen Hauptstadt kommen aus dem bulgarischen Sliven. Warum gerade von dort? Es viele Erklärungen, verbindlich sind sie nicht

Unter dem Bahndamm des Brüsseler Nordbahnhofs zieht sich eine heruntergekommene Straße hin, die Rue d’Aerschot. Das ist kein Pissoir, steht an einigen Stellen in Rosa geschrieben. Beinahe alle Häuser haben Schaufenster, in denen Prostituierte sitzen. Kleine Rudel junger Männer ziehen daran vorbei. Sie rufen obszöne Aufforderungen gegen die Fensterscheiben, verspotten die Huren mit Blicken und Gesten, kühlen sich ihr Mütchen. Die Prostituierten lächeln. Die meisten sind jung, viele sind auffallend schön. Sie sind Europäerinnen.

Die Rue d’Aerschot ist nur ein Ausschnitt aus der Brüsseler Prostitution. Etwa 200 Frauen arbeiten hinter den Vitrinen. Wohl 70 Prozent von ihnen sind Bulgarinnen, davon wiederum kommen 70 Prozent aus ein und derselben ostbulgarischen Stadt. Insgesamt sollen 2.000 Prostituierte aus Sliven im Großraum Brüssel identifiziert worden sein. Eine Studie des bulgarischen Centers for the Study of Democracy schätzt die Zahl der im Ausland arbeitenden Slivener Prostituierten hingegen auf 1.000.

Der zuständige Polizeiposten bestätigt mir, auch die Zuhälter seien aus Sliven. Warum gerade von dort, insistierte ich. „Es war ein armes Dorf“, antwortete der Polizist, „das auf diese Weise reich geworden ist.“ Sliven, Stadt der Winde und der Zigeuner genannt, ist aber kein Dorf. Es hat 100.000 Einwohner.

Armut und Arbeitslosigkeit, das war die erste und erstbeste Antwort auf meine Frage nach dem Warum der Prostitution, ich sollte sie noch öfter hören. Sie stellte mich nie zufrieden. Arm sind sie anderswo auch, dennoch sind Polinnen zum Putzen nach Brüssel gegangen und Polen nicht als Zuhälter, sondern als Klempner. Die Antwort war auch deswegen schlecht, weil in den Schaufenstern der europäischen Hauptstadt Abgängerinnen von Slivens Fremdsprachengymnasien gesehen wurden. Eine Eliteschule, mit deren Abschluss man auch andere Jobs findet.

Jungens macht rasch

Warum Sliven, fragte ich in der bulgarischen EU-Vertretung nach. Die Sprecherin rief mich an, ihre Stimme bebte vor Empörung. „Wollen Sie Bulgarien wirklich über Prostituierte porträtieren?“, schrie sie ins Telefon. Ich hatte unwillkürlich eine Dame beleidigt. Zu Jahresbeginn waren die bulgarischen Behörden schon vom Kunstwerk Entropa der tschechischen Ratspräsidentschaft beleidigt worden. Die Bulgarien darstellende türkische Toilette musste damals mit einem schwarzen Tuch verhängt werden. Ich entschuldigte mich und gab zu bedenken, dass es für das Bild Bulgariens in Europa von Bedeutung sein könnte, wenn Zehntausende Bewohner und Besucher Brüssels das Balkanland ausschließlich in Gestalt von käuflichem Sex kennenlernen. Ich bekam keine Antwort. Auch andere bulgarische Behörden schwiegen. Ich sollte nie wieder eine Antwort vom offiziellen Bulgarien bekommen.

Ich streunte ein paar Mal in der Rue d’Aerschot herum. Die meisten Prostituierten lächelten süß, manche klopften auffordernd an die Innenseite der Scheibe. Einige sahen tatsächlich wie Elitegymnasiastinnen aus. Ich sprach mit den Freiern. Die Mehrheit bestand aus jungen Migranten, gruppenweise durchlaufend und durchfahrend. Von Sliven hatten sie noch nie gehört. Ich ließ mir den Vorgang beschreiben. Er dauert 15 Minuten. Er findet hinter einem Vorhang statt, der Kunde hört die Kolleginnen plaudern und stöhnen. Der Preis ist 40 Euro, für 50 ist ein Stellungswechsel dabei. Blasen mit Gummi, Gleitmittel, Penetration. Die Frauen lassen sich nicht küssen, nirgendwohin. Damit der Kunde rasch ejakuliert, beginnen sie automatisch zu stöhnen. Im Schauraum, immer als behagliche Stube eingerichtet, tratscht inzwischen die unbeschäftigte Kollegin mit dem biederen Mütterchen, das dort herumsitzt. Die Rolle der Alten erschließt sich auf Anhieb nicht. Wenn die Viertelstunde um ist, scheppert ein Wecker. Zum Abschluss wird der Kunde gefragt: „Ça va, cheri?“

Ich sprach eine Frau aus Sliven, jung, schön, dunkel gelockt. „Warum arbeiten hier so viele aus Sliven?“, fragte ich sie. Sie habe keineswegs studiert, erklärte sie, Sliven besuche sie nur noch, um Urlaub zu machen. Warum Sliven, fragte ich erneut. Wie kann ein einziges Städtchen namhafte Teile der Niederlande und die Millionenstadt Brüssel mit Prostituierten beschicken? „C’est comme ça“, gab sie zurück. „Das ist eben so.“

Acht Kugeln überlebt

Die Frage ließ mich nicht mehr los. Ich machte mich im Sommer nach Sliven auf. Ich kam von der Küste durch eine dürre, nicht allzu intensiv bewirtschaftete, baumlose Ebene. Als ich die schroff aufragende Felswand der Blauen Steine sah, war ich am Ziel. Es war heiß. Die nördlichen Winde mehrerer Balkanpässe treffen in Sliven zusammen, in jenen Sommertagen kühlte jedoch nichts, allenfalls der reife Baumbestand der herausgeputzten Flaniermeile.

Sliven sah nicht schlecht aus. Die weitläufigen Fauteuil-Landschaften der Lounge-Restaurants luden zum Ausspannen ein. Unerträglich war mir mein Blick auf die jungen Frauen von Sliven. Ich bekam die Frage nicht aus dem Kopf, ob ich ehemalige oder künftige oder Huren auf Urlaub sah.

Am Anfang half mir die Sofioter Schriftstellerin Janina Dragostinova durch die Stadt. Wir fuhren in ein Dorf der Umgebung. Dragodanovo war flach, ärmlich, graubraun. Einige wenige teure Autos, aber Dragodanovo war nicht anzusehen, dass buchstäblich jedes ansehnliche Mädchen Prostituierte im Ausland wird.

Im Dorfcafé saßen Blödsinn brabbelnde Suffköpfe. Sie gaben mir die Antwort: „Das ist die Demokratie“. Die Demokratie – eigentlich meinten sie den Kapitalismus – sei für die grassierende Prostitution verantwortlich. Aber warum Dragodanovo, warum Sliven, ist nicht woanders auch Demokratie? Ich wollte gehen, da winkte mich Janina an einen anderen Tisch. Sie hatte einen Mann zum Reden gebracht. Er war jünger, reinlicher gekleidet und vor Jahren ein Brüsseler Laufbursche für den berühmtesten Slivener Zuhälter gewesen. Jener Atanas Mundev hatte acht Kugeln überlebt.

Der ehemalige Laufbursche erzählte, dass der Profit der Prostitution in Drogen investiert wurde, holländisches Ecstasy für Bulgarien. Auch er sprach von Demokratie und führte Beträge an, welche die Frauen aus dem Slivener Gebiet angeblich verdienen, unrealistisch hohe Beträge. Er sagte, die „weißen Männer in Brüssel“ würden nach der Exotik einer dunklen Frau verlangen, darum würden sich die Prostituierten bräunen. Ich äußerte leise Zweifel, was die „weißen Männer in Brüssel“ betraf. Viele Sexkunden sind Araber. Dass die meisten Huren der Rue d’Aerschot stark gebräunt sind, konnte ich bestätigen. Zuhause halten sie an der Gewohnheit fest, sagte der Laufbursche. „Die Solarien in Sliven wurden alle von ehemaligen Prostituierten eröffnet.“

Zurück in Sliven wurde mir eine Person vorgestellt, deren Identität ich zu schützen versprach. Ich nenne sie nur die Quelle. Die Quelle hatte die brutalen Anfänge in den neunziger Jahren erlebt. In Chateau Alpia seien damals fetten alten Sextouristen aus Italien und Deutschland Minderjährige zugeführt worden. Sie habe ein entflohenes Mädchen geschützt, erzählte die Quelle, daraufhin habe man ihr im Park einen Stein an den Kopf geworfen. „In Sliven gab es eine Sportschule, die international erfolgreiche Boxer hervorbrachte. Nach der Wende verloren die Jungs ihren sozialen Status und wussten nicht mehr, wohin mit ihrer Kraft. Sie wandten sich Schutzgelderpressung und Zuhälterei zu.“

Mittlerweile habe sich die Machtbalance verändert, die Zuhälter wagten keine Gewalt mehr anzuwenden. „Jetzt sind es die Mädchen, die sich einen Zuhälter suchen, nicht mehr umgekehrt.“ Die Quelle lüftete das Rätsel der soliden Omas hinter den Brüsseler Schaufenstern: „Das sind pensionierte Buchhalterinnen und Lehrerinnen. Sie sammeln für die Zuhälter das Geld ein.“ Man nenne diese Frauen Madamkas.

Ein Herr setzte sich zu uns und stellte sich als Unternehmer vor, als Gemüsehändler. Er sagte, es gebe 300 Zuhälter in Sliven. Einen davon habe seine Schwägerin in den Niederlanden angezeigt, deshalb habe ihm der Zuhälter eine Bombe in den Garten geworfen. Was die Prostitution seiner Schwägerin betraf, blieb er vage. „Der Zuhälter hat ihr nichts gezahlt.“ – Nichts?“ – „Na gut, er hat ihr wenig gezahlt.“

Auf meine wiederkehrende Frage, warum so viele Prostituierte aus Sliven seien, bekam ich noch ein paar Erklärungen. „Das sind Zigeunerinnen“, meinte die nationalbewusste Lehrerin einer „technischen Eliteschule“. Zwar sind ein Viertel der Slivener Roma, zwar schwärmt manch junger Rom davon, dass es „kein süßeres Geld“ als die Zuhälterei gibt, doch war diese Antwort falsch. Die Studie des Centers for the Study of Democracy hält fest, dass eine Minderheit der Slivener Prostituierten Roma sind. Ich erzählte der Lehrerin, dass es sich mit den Hautfarben auf der Rue d’Aerschot andersrum verhält. Die Freier ziemlich orientalisch, die Huren ziemlich weiß. Sie verzog pikiert das Gesicht.

Wenn ich 18 bin

Der Strom der Geschichten versiegte. Ich spazierte mehrmals durch „Klein-Amsterdam“, einen Straßenzug im Zentrum von Sliven, angeblich der bevorzugte Rückzugsort der ehemaligen Prostituierten. In den neuen pastellfarbenen Appartementblocks gab es viele Läden für Kindermode und zahlreiche Solarien. Ich betrat die Solarien und fragte: „Parlez-vous français?“ Niemand bejahte. Allein die Gestecke aus Plastikblumen in den Auslagen erinnerten an die Schaufenster der Brüsseler Rue d’Aerschot.

Zu guter Letzt ging ich zur Slivener Polizei. Der Gemüsehändler sei ein vorbestrafter Zuhälter, sagten mir die Beamten, die Bombe in seinem Garten eine Silvesterrakete gewesen. Ich sprach mit einem auf Menschenhandel spezialisierten Polizisten. Er schätzte die Zahl der Slivener Frauen auf der Rue d’Aerschot etwas niedriger ein, bestätigte aber das meiste: Das Verschwinden der Zwangsprostitution, das Phänomen Fremdsprachengymnasiastinnen, das Phänomen Madamka. Er sagte, die Brüsseler Etablissements seien häufig im Besitz von Russen. Eine Prostituierte verdiene „nicht mehr als 7.000 Euro monatlich“. Das Geld werde von Bargeldkurieren in Linienbussen nach Bulgarien gebracht und in Immobilien investiert.

Der Beamte klang vernünftig, ich begann, ihm unwillkürlich zu vertrauen. Er sagte, er habe zwei Schulmädchen auf der Straße gehört. „Eine sagte zur anderen: Wenn ich 18 bin, gehe ich nach Brüssel, und dann werde ich auch ein tolles Auto haben.“ Er meinte, es gäbe mittlerweile junge Slivener Paare, die für einige Monate nach Brüssel gehen, um freiberuflich anzuschaffen. „Warum tun sie das?“, fragte ich. Er zögerte. „Sie finden das wohl modern. Sie wollen mit sich selbst experimentieren.“

An meinem letzten Abend ließ ich mir zeigen, was es in Sliven selbst an Prostitution gab. Es war ein Straßenstrich mit gerade einmal drei Frauen, kaputt wirkende Romni aus dem 20.000-Einwohner-Slum Hoffnung. Ich ging mit einer mit. Von Bruksel hatte sie nie gehört. Sie sagte, sie sei 20, sah aber aus wie 40. Sie sagte, sie stille gerade ihr zweites Kind. Aus dem Dunkeln eines nahen Parks schälte sich ihr Zuhälter heraus. Es war ihr Bruder. Den späteren Verlauf des Abends hätte ich mir gern erspart. Als ich der Frau zu erkennen gab, dass ich keinen Sex will, sollte die Situation in Bettelei umschlagen, lang und quälend.

Der Weg zum Bett hielt aber noch eine Antwort über die Frauen in der Brüsseler Rue d’Aerschot bereit. Lange fand der kleine Zuhälter nicht die Wohnung, zu der er mich und seine Schwester führte. Irgendwann standen wir im dunklen Treppenhaus eines gutbürgerlichen Hauses, irgendwann ging eine Wohnungstür auf. Es empfing uns ein biederes Großmütterchen im Nachthemd, die Augenbrauen frisch gezupft. Sie war überaus freundlich, nahm 2.50 Euro Miete und wies uns den Weg zum gemachten Bett. Diese Oma sieht wie die Brüsseler Madamkas aus, durchfuhr es mich. Wie die ordentlichen Rentnerinnen, die strickend und plaudernd hinter den Schaufenstern der Rue d’Aerschot sitzen. Warum so viele Frauen aus Sliven Prostituierte werden? Ich weiß es immer noch nicht zu sagen. Wenn es jemand weiß, dann die Omas von Sliven.

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