Bei seinem letzten Streifzug durch den Osten Europas (Freitag 11/08) hatte sich Martin Leidenfrost im Donbass umgetan. Er wollte in dieser stark russisch geprägten Gegend der Ukraine Spuren der Orangen Revolution von 2004 finden, die den heutigen Präsidenten Juschtschenko ins Amt brachte. Besonders hatte es ihm ein "Museum der Revolution" angetan, das in der Stadt Lugansk existieren sollte, sich dann aber als verflossene Episode nur eines Sommers erwies. Diesmal ist Martin Leidenfrost zwei prominenten Roma-Politikern hinterher gereist, die auf sehr unterschiedliche Weise aktiv sind.
Am Schluss bekam ich den Satz zu hören, den ich über die Jahre gefürchtet hatte: "Ein Gadscho kann die Roma nicht verstehen." Am Schluss, das heißt, am Ende einer langen Reise, einer unsteten, mäandernden Reise, auf der ich genau das versucht hatte - das einzige grundstürzend andersartige europäische Volk zu verstehen.
Ich Gadscho war irgendwie erleichtert. Verstünde ich als Nicht-Rom plötzlich die Roma, tröstete ich mich, müsste ein vollkommen anderer Mensch aus mir geworden sein. Das dann lieber nicht, oder? Ich wich in diesem Augenblick zurück.
Gewiss blieben meine Versuche meist oberflächlich. Solange ich in Österreich, Deutschland und der Ukraine lebte, begegneten mir keine Roma. Erst als ich 2004 in die Slowakei zog, wurde das anders. Ich vernarrte mich eine Bahnfahrt lang in eine schöne Romni, wollte angesichts der schlichten Wucht alter Romani-Trauerlieder losschluchzen und fand mich am nächstgelegenen Badetümpel in der Gesellschaft junger Roma wieder, die mir eine Runde Bier abschnorrten, mir ihre Hip-Hop-Tattoos erklärten und mich ihren haarsträubenden Geschichten verwirrten.
Ich suchte medial berühmte Roma-Ghettos auf, Luník IX. und Fakulteta in den Großstädten Kosice und Sofia, und sah Elendssiedlungen in der slowakischen Provinz, darunter Svinia, eine apokalyptische Szenerie nackter und verschlammter Verwahrlosung, das verstörendste Schreckensbild meines Lebens.
Ich las ein Dutzend Bücher und soziologische Studien. Der Blick von außen, ob sozialpädagogisch verkniffen oder geigenselig verbrämt, stellte mich nicht zufrieden. So begann ich, authentische Vertreter der Roma zu suchen, und entschied mich für drei Roma-Politiker aus drei Staaten und reiste ihnen jeweils nach.
Über Rajko Djuric habe ich an dieser Stelle (Freitag 16/07) bereits geschrieben. Der 60-jährige Serbe hat drei Dutzend Bücher über Geschichte, Sprache und Kultur seines Volkes herausgebracht. Ich hatte daraus erfahren, dass die Roma aus Indien eine Art Kastensystem mitgebracht hätten, eine Aufsplitterung in Stämme, Berufsgruppen, Unterkasten. Und ich fragte Djuric, ob die beklagenswert schlechte politische Organisation der europäischen Roma unter anderem mit kulturellen Trennlinien innerhalb der Roma-Gemeinschaft zu erklären sei. Er verneinte das klar, das Unterkasten-System gehöre in die Vergangenheit.
Mittlerweile habe ich zwei weitere Roma-Leader kennen gelernt. Zuerst die schöne Ungarin Livia Járóka - einen vielgelobten Jungstar des Europaparlaments - und zuletzt den 54jährigen Slowaken Ladislav Fízik, dem seit einiger Zeit das Attribut "umstritten" anhängt. Fízik ließ sich als Berater des slowakischen Nationalistenführers Ján Slota anheuern, der für seine minderheitenfeindlichen Ausfälle bekannt ist. Ich war ehrlich neugierig, wie mir der erfahrene Roma-Aktivist Fízik das erklärt.
Wie ist es, eine schöne Frau in der Politik zu sein?
Zunächst aber traf ich Livia Járóka in ihrer Heimatstadt Sopron, im äußersten Westen Ungarns, an der österreichischen Grenze. Die 33-Jährige hatte eine Pizzeria Fontana vorgeschlagen, die sich als Pizzeria Fortuna erwies. In dem glanzlosen Lokal nahmen am frühen Vormittag angegraute österreichische Ausflügler ihr Bierfrühstück mit Pizza-Nachtisch ein.
Die Absolventin mehrerer Universitäten kann sich einen solchen Treffpunkt leisten, Sie strahlt genug Glanz aus, sie gehört den Global Young Leaders an, einer internationalen Auswahl von Jungunternehmern und Prominenten wie Steffi Graf und Leonardi di Caprio, die mit Zieldatum 2030 an einer besseren Welt arbeiten. Ich stieß auf Járóka, weil sie 2006 zur "Europaabgeordneten des Jahres" gewählt wurde. Damals versandte ein Vertreter der nationalistischen bulgarischen Ataka-Partei eine Rundmail, um Járóka mit einigen rassistischen Tiefschlägen in Freestyle-Englisch unter der Gürtellinie zu treffen. Ich wollte die Angegriffene nach dem Vorfall fragen, doch dann war es mir peinlich. Der Vormittag in der Fortuna war zu schön.
Járóka entstammt wie Djuric einem Musiker-Clan; sie ist mit dem wohl berühmtesten ungarischen Roma-Musiker verwandt, dem verstorbenen Prímás Sandor Járóka. Die Musikanten hätten innerhalb der Roma keineswegs die Funktion einer Elite übernommen, viele Roma-Führer seien Geschäftsleute. "Es gibt so viele Roma-Politiker mit so kontraproduktiven schlechten Absichten und mit so kontraproduktiven schlechten Ergebnissen", meint die Anthropologin und weiß über die zweite Romni im Europaparlament - gleichfalls eine Abgeordnete aus Ungarn - nichts Gutes zu sagen.
Livia Járóka ist eine moderne Frau. Sie hat zwei kleine Kinder, die sie nach Brüssel mitnimmt, aber wegen täglicher Abendveranstaltungen nur am Nachmittag sehen kann. Ihr Mann, ein ungarischer Gadscho, ist bei den Kindern zuhause.
Járóka gehört jener Gruppe ungarischer Roma an, die schon vor Jahrhunderten assimiliert wurden und längst nur noch Ungarisch sprechen. Romanes musste sie lernen. Sie erzählt mir, in Ungarn gäbe es mit den Olah-Roma noch eine große Gruppe traditionsbewusster Roma mit kultischen Vorstellungen von Rein und Unrein. "Sie werden kein Olah-Mädchen in Hosen sehen." - Ich frage, wird Járóka akzeptiert, wenn sie mit Hosen in eine Olah-Gemeinde geht? "Natürlich, die sind nicht dumm." Innerhalb der europäischen Roma gäbe es viel weniger Unterschiede als Ähnlichkeiten. Konflikte innerhalb der Roma seien sozialer, nicht kultureller Natur: "Die Gadsche benutzen die Roma, und sie wollen sie benutzen. Innerhalb der Roma gibt es nur einen Kampf, wenn die Gadsche den Kampf wollen."
Járóka kam auf der Liste der nationalkonservativen Fidesz-Partei ins Europaparlament und gehört nun zur christdemokratischen Fraktion. "Menschenrechtsfragen kommen dort in einer gereizteren Atmosphäre auf. Man kann fühlen, dass sie fürchten, damit Wähler zu verlieren. Und sie wissen genau, dass sie es mit der meist diskriminierten, aber auch der meist gehassten Volksgruppe zu tun haben. Aber sie wissen auch, dass für die Roma irgendetwas bewegt werden muss."
Sie nennt eine Zahl: 2050 wären in Ungarn und der Slowakei ein Drittel der aktiv Erwerbstätigen Roma. Ich frage sie, ob sie die Gadsche nicht erschreckt, wenn sie öffentlich solch eine - im Übrigen bestreitbare - Zahl nennt. "Ich will die Leute nicht erschrecken", antwortet sie und hält kurz inne. Dann findet sie den Faden wieder: "Es wäre kurzsichtig, erschrocken anstatt clever zu sein."
Am Ende des Interviews sagt sie, eigentlich gebe sie keine Interviews mehr. Sie habe in zwei Jahren 800 Interviews gegeben und immer wieder die gleichen Fragen hören müssen: "Wie werden Sie diskriminiert? Und: "Wie ist es, eine schöne Frau in der Politik zu sein?"
Mit Ladislav Fízik ist es ganz anders. Das Gespräch mit der ungarischen Abgeordneten fand auf Englisch statt, und wir gebrauchten fleißig den Korrektjargon des internationalen Austauschs. Mit dem Slowaken Fízik spreche ich slowakisch, und weder kennt mein Gossenslowakisch Entsprechungen für commitment und anti-discrimination-discourse noch würde Fízik solche Ausdrücke gebrauchen - ein kräftiger Kerl mit brummendem Bass. Seine Sätze sind schlicht, bildhaft, archaisch, zupackend. Wenn er eine Sache gut findet, nennt er sie "normal", und im gegenteiligen Fall sagt er nur: "Das ist schlecht, hej." Er war im Sozialismus Polizeioffizier, und es stellt sich heraus, dass er in den Siebzigern just dort den Eisernen Vorhang bewachte, wo ich heute lebe. Oft spricht er von "seinen Leuten" und meint damit die Mitglieder der staatsbürgerlichen Vereinigung Parlament der Roma, deren Vorsitzender er ist. Er sagt ohne Scheu, dass er "an der Macht" sei.
Und wie ist es, der "Bruder" von Ján Slota zu sein?
Der Treffpunkt, den Fízik vorgeschlagen hat, ist das Apollon Business Center in Bratislava, eine große überglaste Aula mit Palmen und Springbrunnen, um die herum gerade die Wolkenkratzer und Business-Quartiere von Bratislavas Manhattan gebaut werden. Er hatte in einem anliegenden Ministerium zu tun.
Der Prozentsatz der Roma an der Gesamtbevölkerung ist in der Slowakei höher als in Ungarn, wahrscheinlich etwas unterhalb der von Fízik genannten Zahl, "neun bis zwölf Prozent", aber in Parlamenten sind sie nicht vertreten. Auch Fízik, seit langem einer der bekanntesten Roma-Politiker des Landes, ist bei Wahlen regelmäßig gescheitert. Also hat er sich der kleinen Regierungspartei SNS von Ján Slota zugewandt, der den Roma einmal mit "einem kleinen Innenhof und einer langen Peitsche" drohte.
Nun ist Fízik Ján Slotas persönlicher Berater und trifft ihn einmal pro Woche. Wie viel slowakische Roma er vertritt? "Ich denke, genug", antwortet der Inhaber einer Baufirma in der mittelslowakischen Provinz. "Ich denke, dass ich jetzt an der Macht bin - und das sage ich im Ernst - ich kann mitentscheiden."
Die Slowaken bräuchten einen Politiker wie Slota, der sagt, was ihm auf der Zunge liegt. "Das Ausland sieht in ihm einen Grobian, aber das ist ein politisches Kapital." Er und Slota hätten sich einige Dinge erklären müssen, jetzt seien sie Brüder. Er lacht und wiederholt: "Wir sprechen uns als Brüder an." - "Auch Slota nennt Sie seinen Bruder?" - "Ja, er sagt: mein Bruder!" Slota habe ihm sogar einen sicheren Listenplatz bei der nächsten Europawahl zugesagt.
Wir saßen lange unter den Palmen der Business-Aula, Fízik schien in sich zu ruhen - er hat ebenfalls studiert, ist ebenfalls mit einer Gadsche verheiratet und beantwortet die Frage zu etwaigen kulturellen Trennlinien innerhalb der "acht bis vierzehn Millionen" europäischen Roma wie die anderen. Es handle sich nicht um kulturelle Spaltungen, sondern um Arme und Reiche.
Höchste Werte der Roma seien Glück und Gesundheit, sagte Fízik, Kinder gehörten zum Glück. Die Roma in den Elendssiedlungen scheinen aber auch ihm fremd. "Es ist nicht gut, wenn ein junges Mädchen mit 13 ein Kind bekommt." - "Sagen Sie das den Menschen in den Siedlungen?" - "Ja." - "Und was bekommen Sie zur Antwort?" - "Manchmal habe ich den Eindruck, sie sind sich gar nicht bewusst, dass sie leben."
Es war Ladislav Fízik, der mir sagte, ein Gadsche könne die Roma nicht verstehen. Ich nahm es ihm nicht übel, wie wäre solch ein lockendes, rätselhaftes, furchterregendes Volk auch zu verstehen. Ich fürchte, die Gadsche werden sich noch viele Irrtümer leisten und gegenüber den Roma weiter versagen. Ich bin nicht derjenige, der Rat weiß. Kein Volk in Europa fordert unser Denken und Fühlen so existenziell heraus wie die Roma. Wenigstens dafür haben sie Achtung verdient.
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