Im Schatten der Störche

Österreich/Slowakei Ein Jahr nach der EU-Osterweiterung liegt die Gemeinde Marchegg immer noch mit dem Rücken zur Grenze

Auf der ganzen Welt gibt es keine zwei Hauptstädte, die näher aneinander liegen als Wien und Bratislava - 65 Kilometer beträgt die Wegstrecke zwischen beiden Stadtzentren, auf gerade einmal 35 Kilometer schrumpft die Distanz, misst man von Stadtgrenze zu Stadtgrenze. Hier ist die Naht zwischen altem und neuem Europa auf Pendlerdistanz verkürzt.

Nach einer Schrecksekunde von 15 Jahren entdecken nun die Stadtväter, welches Geschenk ihnen die Geographie in die Wiege gelegt hat. Ein Wortgeklingel hebt an: Der Wiener Bürgermeister Häupl hat sein Konzept einer "Twin-City" vorgestellt. In einem Wording-Wettbewerb des Wiener Stadtschulrats wurde für die mitteleuropäische Urbanregion, die das tschechische Brno und das ungarische Györ mit einschließt, das Kunstwort "Centrope" kreiert. Da mutet es geradezu archaisch an, wenn der schmale Fluss March, der den Großteil der österreichisch-slowakischen Grenze bildet, die Region weiterhin als unüberwindliches Hindernis durchschneidet. In der Endphase des Habsburger Reiches gab es noch zwölf Übergänge, darunter vier Straßenbrücken. Heute kann der 74 Kilometer lange Lauf der March zwischen Donaumündung und tschechischer Grenze nirgends zuverlässig überquert werden.

Ganz im Norden, im Dreiländereck Österreich-Tschechien-Slowakei, ist tagsüber eine provisorische Pontonbrücke in Betrieb - aber nur bei günstigem Wasserstand. Längst sollte das Provisorium, das in einem Bürgerentscheid ursprünglich abgelehnt wurde, einer fixen Brücke weichen. Tatsächlich wurde vor einem Jahr auf österreichischer Seite ein Brückenpfeiler errichtet - doch dabei ist es seither geblieben. Weiter südlich verkehrt, wenn die March nicht gerade zuviel oder zuwenig Wasser führt, in bukolischer Idylle die Angerner Fähre.

Die Brückenpfeiler gibt es seit 1917

An der eingleisigen Bahnlinie Wien-Bratislava, direkt an der Grenze, liegt die niederösterreichische "Storchenstadt" Marchegg, eine strukturschwache Gemeinde von 3.500 Einwohnern. Nach 40 Jahren am Eisernen Vorhang wurde Marchegg in den Neunzigern zur Frontstadt der Schengengrenze.

Die Tag und Nacht überwachten Marchauen sind ein reizvolles Kleinod der Natur - besonders das gut erschlossene "Storchendorf Europas" ist bei Tagesausflüglern beliebt. In den abgestorbenen Eichen der Au siedelt die größte baumbrütende Weißstorchkolonie Europas, eine Gemeinde von etwa 80 Störchen, die den Winter in Südafrika verbringen. Die Störche sind die einzigen Bewohner Marcheggs, denen die Grenze nicht schwer im Magen liegt: Sie haben ihre stattlichen Nester zwar in Marchegg, holen sich ihr Futter aber gern aus den Feuchtgebieten der slowakischen Seite.

Trotz zahlloser Bemühungen liegt Marchegg ein Jahr nach dem EU-Beitritt der Slowakei immer noch mit dem Rücken zur Grenze. Eine slowakische Speisekarte bekommt man nicht, doch kann man sich das kulinarische Angebot mühelos übersetzen lassen - in Marchegg und Umgebung bedient mittlerweile fast ausschließlich slowakisches Personal. Will man aber von Marchegg ans andere Ufer der March fahren, besteht die einzige zuverlässige Verbindung in einer über 40 Kilometer langen Route, die weit nach Süden, zweimal über die Donau und durch das gesamte Stadtgebiet von Bratislava führt. Dabei ist Devínska Nová Ves, ein entlegener Bezirk Bratislavas, gerade einmal fünf Kilometer entfernt. Das dort angesiedelte Volkswagen-Slovakia-Werk, eine riesenhafte Anlage für 7.000 Beschäftigte, ist von Marchegg aus gut zu sehen. Mit Blick auf die Isolation der Gemeinde erscheint vor allem ein Umstand kurios: Die Brückenpfeiler zur seit Jahren projektierten Brücke existieren bereits - und zwar seit 1917. Sie wurden seinerzeit von italienischen Kriegsgefangenen errichtet, parallel zur bestehenden Eisenbahnbrücke.

Um Peter Schmidt auf die Palme zu bringen, reicht die Frage, warum immer noch niemand eine Brücke auf die vorhandenen Pfeiler gelegt hat. "Das müssen Sie den niederösterreichischen Landeshauptmann fragen", antwortet der Marchegger Bürgermeister entnervt.

Erwin Pröll, der bewusste Landeshauptmann, hat zwar Ende 2003 den ersten Spatenstich zur Brücke vorgenommen, doch ist das Projekt danach in der Mühle unterschiedlichster Widerstände stecken geblieben.

Der Wirtschaftspark blieb ein Park

"80 Prozent der Marchegger wollen die Brücke", gibt sich Peter Schmidt überzeugt, "es sind nur 20 Prozent, die gegen alles sind." Was den Bürgermeister besonders ärgert, sind die unermüdlichen Aktivitäten der Marchegger Bürgerinitiative, die aus ökologischen Gründen gegen den Bau einer Autobrücke kämpft.

Das mit der Brücke verknüpfte Projekt einer Schnellstraße nach Wien würde eine Schneise zur bestehenden Autobahn zwischen Bratislava und Brno schlagen, doch die Bürgerinitiative fürchtet um das Gleichgewicht der Aulandschaft, die durch die internationale Ramsar-Konvention geschützt ist. Karin Chladek, deren Sprecherin, kritisiert das auf die Autoindustrie fixierte Wirtschaftsmodell der Regionalpolitiker. "Es werden Versprechungen über Tausende von Arbeitsplätzen gemacht, die durch eine Schnellstraße vom Himmel fallen würden, anstatt dass genauer hingesehen wird, wer in der Region derzeit tatsächlich wirtschaftlichen Erfolg hat."

"Allein mit Grüne-Bäume-Anstreichen kann man keine Arbeitsplätze schaffen", schimpft der Bürgermeister, der einer Gemeinde von Wien-Pendlern vorsteht.

"Jetzt hätten wir die Früchte ernten können", erklärt auch Josef Purkhauser bitter. Als Wirtschaftskammer-Chef des österreichischen Bezirks Gänserndorf vertritt er die ökonomischen Belange der Region Marchfeld. "Wer sich jenseits der March umsieht und das Tempo registriert, mit dem sich dort ein wirtschaftlicher Aufschwung vollzieht, wird feststellen, dass in unserem Grenzgebiet für langes Überlegen keine Zeit mehr ist." 300 Millionen Euro Kaufkraft gehen verloren, rechnet die Wirtschaftskammer vor, 10.000 Menschen pendeln nach Wien. Verdrossen nennt Purkhauser die Region nur noch ein "vergessenes Eck".

Im Juli 2003 wurde - in freudiger Erwartung einer Brücke - der Wirtschaftspark Marchegg eröffnet. Das Land Niederösterreich hat seither über die Gesellschaft Eco Plus 4,4 Millionen Euro investiert, Grundankäufe nicht eingerechnet. Dahinter steht das Interesse österreichischer Investoren, nach der EU-Osterweiterung an dem Automobilcluster zu partizipieren, der sich am slowakischen Ufer um Volkswagen Slovakia ausgebreitet hat. Unter den Interessenten wird nicht zuletzt Magna, der Autozulieferer-Konzern des Austro-Kanadiers Frank Stronach, vermutet. Bisher jedoch ist der Wirtschaftspark Marchegg tatsächlich ein Park geblieben: Kein einziger Betrieb hat sich angesiedelt.


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