Padre Corrado und sein Peppone

Bulgarien In der Kleinstadt Belene ist man müde geworden, aber schon bald soll hier ein Atomreaktor den Aufschwung bescheren

Belene hat für Bulgaren einen schrecklichen Klang. Auf der Donauinsel, welche der abgelegenen Kleinstadt vorgelagert ist, wurden in der Zeit der Volksrepublik ab 1948 deren Gegner interniert, gebrochen und vernichtet. Die wissenschaftliche und juristische Aufarbeitung des bulgarischen GULAG steht bis heute aus.

Andererseits hat Belene für Bulgaren auch einen süßen Klang. Bis vor kurzem konnte ihr Land für den ganzen Balkan Energie exportieren. Auch nach Tirana, wo es zu Stromausfällen kommt - seit die EU ihr neues Mitglied Bulgarien gezwungen hat, zwei AKW-Blöcke in Kosloduj abzuschalten.

Seit 1970 war Belene dazu bestimmt, Standort eines zweiten bulgarischen Atomkraftwerks zu werden. 1991 wurde der zu 65 Prozent fertiggestellte Bau gestoppt, 2005 beschloss die bulgarische Regierung, das Vorhaben wieder aufzunehmen - 2006 erging der Auftrag an ein Konsortium um die russische Gasprom-Tochter Atomstrojexport - ein Unternehmen, an dem auch Siemens beteiligt ist.

Dass man dieses Kraftwerk braucht, darüber herrscht in Bulgarien weitgehender Konsens. In Belene selbst ist die Zustimmung hundertprozentig. "Es ist ihr einziger Traum, es ist ihre einzige Hoffnung", sagt der Sofioter Regisseur Andrej Paounov, der an einem Dokumentarfilm über den Ort arbeitet. "Wenn in Belene jemand dagegen ist, ist das bestimmt kein Grüner, sondern höchstens jemand, der müde geworden ist, noch länger auf das Atomkraftwerk zu warten."

Leider schon Amerikaner

In Belene angekommen, erschließt sich mir die Struktur der Stadt sofort. Im Zentrum dominiert die Verwaltung der Atomna Elektrozentrala, daran angeschlossen ist das AKW-eigene Hotel Energy, das wegen Renovierung geschlossen ist. Die Rezeptionistin sieht meine Zwangslage, ruft den Direktor des unfertigen Atommeilers an, und ich darf in einem der überdimensionierten Energy-Appartements absteigen. Auch in den 15 Jahren ihrer Nutzlosigkeit war die Verwaltung der verfallenden Nuklear-Baustelle in Betrieb. Neben dem Bürgermeister war der AKW-Direktor stets der führende Mann der Stadt.

An den Energie-Komplex schließt sich ein breiter Boulevard an, eine großzügig begrünte und gepflasterte Fußgängerpromenade, die sich von der dörflichen Ärmlichkeit der Wohngebiete abhebt. Die 10.000-Einwohner-Stadt ist Teil der nordwestbulgarischen Region Severozapaden - Eurostat* hat sie soeben zur zweitärmsten unter insgesamt 268 EU-Regionen erklärt.

An Belenes kurzer Lokalmeile lässt man sich die Armut nicht anmerken. Ich esse in der bescheidensten Kaschemme zu Abend, im Restaurant Gigant, gefüllt mit Männern der mittleren Generation. Einer, der angeblich einmal in Stuttgart war, bietet mir eine Prostituierte an; ein anderer, der Belenes Kinder in Geschichte unterrichtet, lädt mich an seinen Tisch.

Ich wähle den Geschichtslehrer. Da ich Russisch mit ihm spreche, hält er mich zunächst für einen Russen und entschuldigt sich einleitend für Bulgariens NATO-Mitgliedschaft: "Wir sind ja leider schon Amerikaner." Die Bulgaren sind wohl das einzige Volk des ehemaligen Ostblocks, das unverbrüchlich Sympathien für Russland hegt. Die vier oder fünf russischen Spezialisten, die vor ein paar Wochen in die Energy-Appartements einzogen, sind herzlich willkommen. Jeder würde gern mit ihnen saufen.

Vassilij nimmt mit mir vorlieb und führt mich in das elegantere Hotel-Restaurant. Nach zwei Flaschen Rotwein muss ich erkennen, dass Belenes Kinder von diesem Lehrer sicher nichts über die Geschichte des bulgarischen GULAG hören. "Man weiß es nicht genau", beteuert er auf meine Fragen und lenkt immer wieder auf seine historischen Steckenpferde ab, auf die Größe des Großmährischen und des Großbulgarischen Reiches, auf die Größe der Bulgaren überhaupt.

Am nächsten Morgen gehe ich zum Bürgermeister. Petar Dulev ist Sozialist, seine Sekretärin ist schön, sein Fahrer smart, und in seinen Amtsräumen schwirrt es wie in einem Bienenstock. Innerhalb einer Stunde lerne ich mindestens drei Gesichter des schnauzbärtigen Dulev kennen. Da ist der gesellige Stadtvater, ein Kommunikator, der täglich mit mehreren hundert Gemeindebürgern persönlichen Kontakt hält. Er telefoniert für mich, leiht mir seinen Fahrer aus und preist seine Stadt. Die Arbeitslosigkeit sei nicht höher als im bulgarischen Schnitt, behauptet der Bürgermeister, der seine vierte Amtsperiode anstrebt. "Dann brauchen Sie das AKW also gar nicht?", frage ich. "Doch", antwortet er bestimmt, "wir brauchen es, um aus Belene eine moderne Stadt zu machen." Das bedeutet, wenn das Werk 2012 ans Netz geht, bringt das 8.000 Beschäftigte herein. Dann dürfte die Stadt auf das Doppelte ihrer jetzigen Größe wachsen.

Dulevs zweites Gesicht tritt zutage, als ich ihn auf seine Liebe zum Hardrock anspreche. Ja, er habe früher längere Haare gehabt, schwelgt er versonnen. Mit kindlicher Freude erzählt er, dass er seinerzeit in Wien gewesen sei, just am Tag, bevor seine Lieblingsband ein Konzert gegeben habe. Das ist die ganze Geschichte: Er war nicht auf dem Konzert, die Dienstreise war schon zu Ende, aber allein die Erinnerung an die räumlich-zeitliche Nähe zu Deep Purple freut ihn bis heute.

Als ich Dulev frage, wie ich auf die Insel Persina komme, sehe ich kurz sein drittes Gesicht, das aufflackernde Misstrauen der exkommunistischen Amtsperson. Das Gespräch stockt ein wenig, dann erklärt er mir mithilfe einer spontan hingeworfenen Skizze, dass die Insel für die Allgemeinheit gesperrt sei. "Dort befindet sich ein Gefängnis. Um auf die Brücke zu gelangen, muss man die Gefängnisverwaltung passieren, die sich am Stadtufer befindet. Für die Insel braucht man eine Spezialgenehmigung." Er zieht, wo die Brücke beginnt, einen trennenden Querstrich und verstärkt ihn einige Male.

Gospodinovs Bücher

Dulev lässt mich zur neuen Attraktion der Stadt fahren, ans Ufer der Donau, zum topmodernen Zentrum des Naturparks Persina. Das mit Ausstellungsräumen und einer Aussichtsplattform ausgestattete Gebäude wurde von der Weltbank bezahlt. Stela Bojinova, die Direktorin, empfängt mich überschwänglich und führt mir eine Powerpoint-Präsentation auf Englisch vor - gelungene Aufnahmen der Naturschönheiten, die sich auf der Hauptinsel Persina und den Nebeninseln finden. Der Naturpark soll bald Touristen nach Belene locken, erklärt Bojinova, zunächst Tagesausflügler, sobald es die Hotellerie erlaubt auch längerfristig Erholungssuchende.

Ich frage sie, wie das gehen soll, wenn den Touristen das Betreten der Attraktion, der Insel Persina, streng untersagt ist. Bojinova wiegt nachdenklich den Kopf und antwortet: "Die Nebeninseln sind ja nicht gesperrt. Wir haben ein Boot und können in der warmen Jahreszeit Ausflüge organisieren." - "Wie oft haben Sie das schon gemacht?" - "Noch nie."

Ich will die hoffnungsfrohe Biologin nicht entmutigen und kaufe zum Abschied etwas von ihren Souvenirs. Das Symbol des Naturparks ist ein lustiger Graustorch - ich suche mir die Persina-Storch-Tasse aus. Bojinovas Verlegenheit ist anzumerken, ich war der einzige Besuch für lange Zeit. Für den Fall, dass die Spezialisten von Atomstrojexport doch einmal vorbeischauen, will sich Bojinova rüsten: "Ich bereite jetzt eine Powerpoint-Präsentation auf Russisch vor."

Den Rest des Tages verbringe ich mit Todor Gospodinov. Er wird mir zwar vom Bürgermeister vorgestellt, das Verhältnis des 50-Jährigen zum gleichaltrigen Dulev scheint aber durchwachsen. Die Gemeinde Belene tritt nebenbei als Verlag auf und bringt jedes Jahr einige Bücher heraus. Gospodinovs Hobby ist Belenes Geschichte. Als er über die Geschichte des örtlichen Katholizismus geschrieben hat, brachte Dulev das Buch sofort heraus. Seit Gospodinov jedoch über die Geschichte des örtlichen GULAG forscht, wird er von Dulev hingehalten. Im Zivilberuf ist Gospodinov Polizist, sein Hemd ähnelt dem Ornat eines katholischen Priesters, und ich weiß zunächst nicht, was ich von ihm halten soll.

Meist bestätigt Gospodinov die Berichte, die ich über das Lager gehört habe, nur die kolportierte Zahl von 6.000 Toten kommt ihm "gefühlsmäßig" zu hoch vor. Ja, die "Lageristen" - die Betroffenen selbst nennen sich "Repressierte" - hätten Schilf schneiden müssen, im Winter, im eiskalten Wasser stehend. Ein Arzt habe auf der Insel einen Lageristen gesehen, der zur Strafe auf den Kopf gestellt war, die Füße angebunden.

Am Abend treffe ich Gospodinov auf der Lokalmeile, zunächst im behaglichen Siebziger-Chic der Bar Zentral, in der die Zuckerpäckchen das Design von Hundert-Euro-Scheinen tragen, dann in einem neuen chromledernen Segafredo-Café namens Manija, das die schönen jungen Frauen Belenes anzieht. Das Manija ist eine Verheißung: Es wurde erst vor kurzem von einem Sofioter Großunternehmer eröffnet und gilt den Einwohnern Belenes als Hinweis, dass es nun ernst wird mit dem Aufschwung. Viele wollen es nicht mehr glauben, man wartet schon seit Jahrzehnten, und seit Kosloduj misstraut man der Energiepolitik der EU.

Als mir von Gospodinovs Schilderungen bereits der Kopf schmerzt, rückt er mit einer unerwarteten Information heraus: Sein Vater war Wärter auf der Insel. Nicht im Lager, sondern im parallel und bis heute betriebenen Gefängnis. Er fügt gleich eine weitere verstörende Neuigkeit hinzu: "Das Lager ist 1962 keineswegs geschlossen worden, wie oft behauptet wird. Die Inseln wurden auch danach immer wieder als Speziallager genutzt." 1968 seien Hunderte so genannter "Hooligans" eingeliefert worden, Langhaarige oder Sympathisanten des Prager Frühlings. Und zwischen 1986 und 1989 habe man bulgarische Türken, die sich der Bulgarisierung ihrer Namen widersetzten, auf der Insel interniert.

Der religiöse Popstar

In dem unscheinbaren Städtchen, das soviel von der bulgarischen Nachkriegsgeschichte widerspiegelt, leben heute 600 Angehörige der türkischen Minderheit; 6.000 Einwohner sind römisch-katholisch. Innerhalb Bulgariens bilden die Katholiken eine verschwindende Minderheit von 50.000, in Belene stellen sie historisch die Mehrheit.

Ihr Seelsorger ist Padre Corrado, Italiener, der ein schrulliges Bulgarisch spricht und die weite Welt in das Städtchen bringt, dessen Bahnanschluss vorerst eingestellt ist. Padre Corrado wirbt westliche Spendengelder ein und baut ein umfängliches Kulturzentrum für seine Jugend. Zu seiner sonntäglichen Katechese kommen 100 bis 200 Kinder, er ist der religiöse Popstar Belenes, und vielleicht lieben ihn die Jugendlichen auch dafür, dass er sie auf Reisen durch Europa führt.

Auch der Bürgermeister ist Katholik. Ich frage den Padre, ob Petar Dulev zur Messe kommt. "Das ist seine Privatsache", entgegnet er schmunzelnd. Die Antwort ist leicht als Nein zu entschlüsseln. Man könnte Belene gut beschreiben, indem man den Padre und den Bürgermeister als Wiederkehr von Don Camillo und Peppone zeichnet. Die Ähnlichkeiten - im Fall Dulevs sogar die physiognomischen - sind verblüffend. Nur liegt 200 Meter unterhalb der Kirche das verschlossene Tor zum einstigen Lager.

Natürlich will ich auf die Insel. Einmal im Jahr geht das Gefängnistor auf, irgendwann im Frühjahr, und die paar verbliebenen "Repressierten" gehen über die Brücke und gedenken vor einem schlichten Kreuz ihrer Erniedrigung. Es sind nur noch wenige, und die sind zerstritten, 2006 fiel der Gedenktag aus.

Ich versuche es in Begleitung von Gospodinov. Das Tor der Gefängnisverwaltung öffnet sich und vor mir liegt die aus mobilen Metall-Flößen zusammengesetzte Brücke. Der Wärter fragt nach einer Genehmigung. Ich bitte darum, eine solche zu erhalten. Er ruft einen Vorgesetzten an und sagt dann knapp, ich hätte die Genehmigung nicht erhalten.

Gospodinov entfernt sich nach hinten, zur Limousine des Bürgermeisters, die auf uns wartet. Die Sätze des Wärters sind kurz, er wird nicht laut, er verabschiedet mich beinahe wortlos. Er ist gewohnt, dass ihm gehorcht wird. Und ich gehorche.

(*) Statistikbehörde der EU


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