Wo Petro Poroschenko herkommt

Ukraine Im Geburtsort des Präsidenten fehlt den Bauern das russische Fernsehprogramm. Auch sonst sind sie Kiew nicht gerade zugetan
Ausgabe 28/2014
Ein Soldat vor falschen Möwen im Hafen von Odessa
Ein Soldat vor falschen Möwen im Hafen von Odessa

Bild: ANATOLII STEPANOV/AFP/Getty Images

Odessa, das hat schon diesen Klang: blauäugige Matrosen und abgefeimte Marketenderinnen, jüdischer Humor und russische Chansons unter ahornblättrigen Platanen. Am 2. Mai wurde die vielgeliebte Hafenstadt getroffen. Nach einer Straßenschlacht mit pro-ukrainischen Fußballfans starben im Gewerkschaftshaus über 50 prorussische Aktivisten, durch Verbrennen, Ersticken, Fensterstürze. Von Erschlagenen und Erschossenen ist die Rede, von Giftgas. Ein bis heute ungeklärtes Massaker.

Ich fahre nach Odessa, nehme aber den umständlichsten Weg. Das südliche Bessarabien, aufgeteilt auf Moldawien und die Ukraine, ist mit seinem Nationalitätengemisch welthaltig, mit von Asphaltresten zusammengehaltenen Schlaglöchern jedoch auch abgelegenste Provinz. In vielen Landkreisen sind die Staatsvölker in der Minderheit, als verbindende Umgangssprache dient Russisch, und im grausamen Ringen zwischen Brüssel und Moskau lehnen hier besonders viele die von den Regierungen Moldawiens und der Ukraine durchgepeitschte EU-Assoziierung ab. Dass ich im autonomen Gagausien dann auch einige Kerle mit dem schwarz-goldenen Georgsband sehe, dem Erkennungszeichen einer pro-russischen Gesinnung, wundert mich nicht; das kleine turksprachige Volk ist Russland in herzlicher Zuneigung verbunden. In der Hauptstadt Comrat gibt es nichts anderes als russische Zeitungen zu lesen. Komplexer stelle ich mir das Eisenbahnernest Basarabeasca vor, in dem die fünf Nationalitäten Bessarabiens zu ähnlich großen Anteilen vertreten sind. „Ich weigere mich, Moldawisch zu lernen“, sagt dort einer, „solange Moldawien alles Russische ablehnt“. Das Russische – damit meint der ethnische Ukrainer sich selbst.

In Taraclia, dem Zentrum der Bulgaren in Moldawien, steht ein Denkmal, das an 1877 erinnert, den Beginn einer Intervention Russlands zur Befreiung Bulgariens. Die bulgarischen Freiwilligen aus dem zaristischen Bessarabien werden damals Opoltschenzy genannt – so nennen sich heute die prorussischen Aufständischen im Donbass. Eine Oma in Schwarz lädt mich in ihr von freilaufenden Küken und Käfigkarnickeln gehütetes Häuschen.

„In Odessa ist Krieg“, sagt die 78-Jährige. „Wer gegen wen, das weiß ich nicht. Und ich werde nicht sagen, was ich nicht weiß.“ Die Durchreiche ins Wohnzimmer ist mit der Zeitung Solidarnost abgedeckt, darauf die rote Schlagzeile Für die Zollunion mit Russland. Die Oma ist sehr gläubig, dankt dem Herrgott in jedem Satz.

Bei Bolgrad, der bulgarischen Hochburg der Ukraine, halte ich in einem bulgarisch-gagausischen Dorf. Hier wollen sie nicht Ukrainisch lernen. „Die Ukrainer sind diejenigen, die schießen“, erklärt ein Kolchosbauer vor dem Tante-Emma-Laden. „Sie haben uns die russischen Fernsehsender abgedreht, dafür haben wir bulgarische bekommen. Mir fehlen die russischen Filme. Ich will Filme sehen, in denen Hühner und Pferde vorkommen.“ Zur ukrainischen Präsidentenwahl am 25. Mai ging er nicht, über den Gewinner hat die Rothaut eine ganz eigene Meinung. Petro Poroschenko, nebenan in Bolgrad geboren und im heute transnistrischen Bendery aufgewachsen, sei in Wahrheit aus seinem Dorf. „Als der gezeugt wurde, saß sein Vater im Gefängnis. Seine Frau hat ihn betrogen – mit dem Vorsitzenden unserer Kolchose. Poroschenko ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.“ Und der 2. Mai in Odessa? Der Bauer schüttelt düster den Kopf: „Ich weiß nicht, was da vorgefallen ist.“

Odessa, ins Herz getroffen

An der Grenze überrascht mich, dass der moldawische Zoll mein Gepäck bei der Ausreise in die kriegsversehrte Ukraine kaum kontrolliert. „Das ist eine Infektion“, sagt der elegante moldawische Grenzer, „die soll hübsch in der Ukraine bleiben. Was in die Ukraine reingeht, geht uns nichts an. Die Ukrainer haben uns auch nicht geholfen, als wir in Transnistrien Krieg hatten. Vorgänger des Rechten Sektors haben sogar gegen uns gekämpft.“

Vor Odessa passiere ich Straßensperren, aufgestapelte Sandsäcke, dort postierte Polizei kontrolliert aber kaum einen Wagen. Odessa selbst kommt mir vor wie immer. Cafés und Strände sind gut gefüllt, die Baustellen am Meer brummen. Neu ist nur, dass private Sicherheitsdienste Patrouille fahren. Die Polizei – wegen ihrer Passivität am 2. Mai kompromittiert – zeigt sich im öffentlichen Leben so gut wie nicht mehr.

Ich gehe zum Gewerkschaftshaus. Dort steht eine Mahnwache mit Georgsband, daneben eine Spendenbox für den Donbass. Beim Blick auf den klassizistischen Bau verstehe ich nicht, warum darin so viele Menschen verbrannten – die meisten Fenster zeigen keinerlei Rauchspuren. Die wenigen Passanten halten flüsternd inne. 200 Meter weiter wieder das fröhliche Leben. In ihren leichten Kleidchen und stilsicherer denn je flanieren slawische Mademoisellen wie aus Anton Tschechows Sommerfrischeromanzen durch nach den französischen Gründervätern benannte Straßen.

In ganz Odessa sehe ich nur zwei Ukraine-Fähnchen und – vom Gewerkschaftshaus abgesehen – ein Georgsband. Die Odessiter, mit denen ich spreche, verweigern jede Erklärung. Sie sind zornig. Als wäre das, was am 2. Mai geschehen ist, dieser Stadt zutiefst fremd. „Odessa Mama“, wie die Vielgeliebte besungen wird, ist ins Herz getroffen. Aber sie tänzelt mit der Grazilität einer Diva darüber hinweg.

Martin Leidenfrost schrieb zuletzt über EU-Lobbyisten und Russlandversteher

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