Am liebsten beklagt Papst Benedikt XVI. den Relativismus und die Beliebigkeit der Weltbilder außerhalb seines Machtbereichs. Er selbst dagegen glaubt, die absolute Wahrheit zu kennen. Dabei kritisierte bereits Jesus nach Mitteilung der Evangelisten Matthäus und Lukas die Unart, den Splitter im Auge des Bruders zu sehen, den Balken im eigenen Auge jedoch nicht wahrzunehmen. Der Papst, der es richtig findet, die Deutschen vor ihrem gewählten Parlament zu belehren, tut eben dies.
Er beklagt die „Diktatur“ eines Relativismus außerhalb seiner Kirche, der „nichts als endgültig anerkennt“. Doch sieht er dabei nicht die Beliebigkeit und den Relativismus der eigenen Lehren. Benedikt XVI. kennt sogar einen „Plan Gottes, der uns vorausgeht und eine Pflicht darstellt, die anzunehmen allein das Wohl aller und des Einzelnen garantieren kann“. Schon ein solcher Glaube ist „Relativismus“. Einen „Plan Gottes mit der Menschheit“ hat zum Beispiel auch ein gewisser Charles Taze Russel 1874 in Pittsburgh entdeckt, der Gründer der „Zeugen Jehovas“. Der von Russel vorausgesagte plangemäße Weltuntergang fand allerdings nicht statt. Einen Weltuntergang hatte bereits Jesus selbst seinerzeit fälschlich vorhergesagt, wie der Evangelist Markus berichtet.
Alle Offenbarungsreligionen – Judentum, Christentum und Islam – berufen sich auf göttliche Offenbarung. Die Offenbarung aber ist sozusagen die Mutter des Relativismus. Die Christen glauben dabei an das Wirken des Heiligen Geistes. Eine Offenbarung ist jedoch kein Vorgang, bei dem ein immaterieller „Heiliger Geist“ von außen auf die Menschen einwirkt. Ein solches Geschehen würde den Energieerhaltungs-Gesetzen widersprechen. Das wissen die Physiker, und das betont der Gehirnforscher Wolf Singer; übrigens ein Mitglied der päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Die Energieerhaltungsgesetze machen zum Beispiel ein Perpetuum mobile unmöglich, aber ein Automobil möglich, das mit Sprit oder Strom fährt. Es gibt keinen naturgesetzfreien Raum in der Welt. Darauf verlässt sich selbst der Papst, wenn er etwa ein Flugzeug besteigt und gen Himmel fliegt. Die Bilder und ihre Deutungen entstehen vielmehr im Kopf. Eine „Offenbarung“ sollte man deshalb, wie der katholische Theologe Othmar Keel, als kreativen Akt verstehen, also als etwas, das nicht von außen kommt, sondern im menschlichen Gehirn passiert.
Das Wunder ist zwar des Glaubens liebstes Kind. Dieser Glaube aber ist von großer Beliebigkeit. Denn die Grenzen der Natur sind für den Menschen nicht zu ermessen. Das heißt, logischerweise lässt sich keine Aussage darüber machen, ob etwas übernatürlich ist – also ein „Wunder“. Dennoch beherrscht der Wunderglaube die katholischen Lehren. Ein Beispiel sind „Wunderheilungen“. Dabei sind Spontanheilungen „unheilbarer“ Krankheiten in der Medizin mittlerweile gut dokumentiert. Sie sind extrem selten und unabhängig vom Glauben der Betroffenen. Ein „Wunder“ als Voraussetzung für eine „Seligsprechung“ anzunehmen, ist also etwas sehr Relatives.
Die irrige Glaubenspflicht
Auch wer, wie die katholische Kirche, die Tradition als Wert an sich ansieht, pflegt Beliebigkeiten aller Art. So ist der Reliquienkult in höchstem Maße beliebig bis zur Geschmacklosigkeit. Im Aachener Dom werden sogar die sogenannten Windeln Jesu verehrt. Wenn man das ernst nehmen würde, könnte man sich daran machen, in den Windeln Jesu Gene zu entziffern; mit der Besonderheit, dabei auch die des Heiligen Geistes als des Erzeugers von Jesus zu identifizieren. Kann man heute doch bei Homo sapiens selbst noch Gene des Neandertalers nachweisen, mit denen dieser sich gelegentlich paarte.
Der Papst behauptet, dass Gott als Urheber und Ziel alles geschaffenen Seins von der natürlichen Vernunft „mit Sicherheit erkannt werden“ könne. Seine Priester sind deshalb verpflichtet, „alles und jedes einzelne, was vom Lehramt der Kirche in der Glaubens- und Sittenlehre definitiv vorgelegt wird“, zu glauben. Andernfalls droht der Papst in dem von ihm erfundenen „Treueid“, den das Kirchenpersonal abzulegen hat, mit „gerechter Strafe“ bis hin zur „großen Exkommunikation“. Dabei hat bereits Goethe dank seiner natürlichen Vernunft erkannt: „Es irrt der Mensch, solang er strebt.“ Und der Jesuit Wolfgang Seibel weiß: „Die Träger des Lehramts in der Kirche besitzen kein privilegiertes Wissen und keinen nur ihnen eigenen Zugang zur Offenbarungswahrheit.“ Der Apostel Paulus gar relativierte: „Unser Wissen ist Stückwerk.“
Tatsächlich hat die Kirche vernünftigerweise so manche von Papst und Bischöfen einst übereinstimmend vertretene Lehre auch wieder aufgegeben. Dazu zählt jene von der Berechtigung der Sklaverei, der Folter, der Todesstrafe für Häretiker, bis zu einem Zinsverbot, bei dem ansonsten der vatikanische Gottesstaat pleite gehen würde. In diesem Relativismus unterscheidet man sich allerdings positiv vom jüngeren Gottesstaat Iran.
Beliebigkeit drückt sich auch darin aus, wie ernst die katholische Kirche die Bibel nimmt. Der Evangelist Matthäus zitiert Jesus mit der Forderung, „dass ihr überhaupt nicht schwören sollt“. Und dennoch müssen die Amtsträger, wie gesagt, einen Treueid leisten. Der Apostel Paulus berichtete einst, dass die anderen Apostel, Jesu Brüder und sogar Petrus verheiratet waren. Dennoch gilt für katholische Priester der Zölibat. Mit zweierlei Maß zu messen aber ist Relativismus.
Das katholische Lehramt versteht den Glauben als geschlossenes System; offensichtlich aus Angst, sonst die Kontrolle zu verlieren. Geschlossene Systeme sind aus der Psychopathologie bekannt. Psychotiker zum Beispiel – und natürlich auch Sektierer – haben ein geschlossenes Weltbild. Das ist also keine fundamentalistisch-katholische Besonderheit.
Kinderreiche „Jungfrau“
Die schärfsten Kritiker des Papstes und seines Weltbildes sind seine eigenen historisch-kritisch denkenden Theologen. Der katholische Neutestamentler Paul Hoffmann verweist zum Beispiel darauf, was man in der Bibel nachlesen kann, dass Jesus mit seiner eigenen Familie gebrochen hatte. „Dieser Bruch mit der Familie dauerte offensichtlich bis zu seinem Tode an.“ Dennoch ist in der katholischen Kirche der Marienkult im 20. Jahrhundert mit dem Dogma einer leiblichen Himmelfahrt der kinderreichen „Jungfrau“ ins Extrem gesteigert worden.
Oder: „Sämtliche Namen der Papstlisten bis in die Mitte des 2. Jahrhunderts sind legendär“, wie der katholische Kirchenhistoriker und Papstforscher Georg Denzler betont. Das heißt, Listen von angeblichen Päpsten der Frühzeit haben etwas Sagenhaft-Beliebiges und sind jedenfalls nicht historisch. Dennoch spricht Benedikt XVI. den Protestanten, die an die Papstlisten nicht glauben, ihre Kirchlichkeit ab. Weil sie unter anderem „die apostolische Sukzession nicht bewahrt“ hätten, seien sie keine „Kirchen im eigentlichen Sinn“. Jesus hat ohnedies, wie die seriösen Historiker wissen, keine Kirche gegründet und schon gar nicht den Petrus zum Papst und seinem „Stellvertreter“ gemacht. Denn Jesus war kein Christ, sondern blieb Jude bis zu seinem Tode.
Deutschland ist das Land der Reformation und der Aufklärung – obwohl das Letztere auch die protestantischen Kirchen leicht vergessen. Aber es gibt immerhin die Bemühungen der seriösen Bibel-Exegeten um ein „historisch sachgemäßes und dem neuzeitlichen Wahrheitsbewusstsein verpflichtetes Textverständnis“, wie es der evangelische Neutestamentler Jan Gertz ausdrückt. Die Protestanten sind auch deshalb nach Benedikts XVI. Meinung „nicht Kirchen im eigentlichen Sinn“, weil sie „die gültige Eucharistie nicht bewahrt haben“. Sie glauben nämlich nicht an die buchstäbliche „Wandlung“ von Brot und Wein in Leib und Blut Jesu auf ein Klingelzeichen durch einen geweihten katholischen Priester. Und ihre historisch-kritischen Theologen kennen natürlich die Geschichte des Abendmahls: „Die Einsetzungsworte gehen weder auf den irdischen Jesus zurück, noch waren sie fester Bestandteil der frühchristlichen Mahlliturgien.“ So stellt es der evangelische Neutestamentler Jens Schröter fest – und sein Buch mit dieser Aussage konnte immerhin im Verlag Katholisches Bibelwerk erscheinen.
Vor fast einem halben Jahrtausend gelang es Martin Luther, aus dem Relativismus einer Tradition von Höllendrohungen und Ablassgeschäft auszubrechen und in einem Akt der Aufklärung die Reformation zu initiieren. Es gibt kein Zurück mehr. Auch nicht, indem Benedikt XVI. die Hoheit über die „Vernunft“ zu bekommen versucht. Der Mensch hat die große Begabung, die Natur und ihre Gesetze und damit sich selbst immer genauer zu verstehen. Glaube ohne Reflexion im Lichte der Wissenschaft wird zum Aberglauben der Beliebigkeit und des Relativismus.
Der Wissenschaftspublizist Martin Urban, jahrzehntelang Leiter der Wissenschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung, versucht in seinen Büchern, die Erkenntnisse der Forschung auf unser Weltbild anzuwenden. Zuletzt ist von ihm im Verlag Galiani Berlin das Buch Die Bibel. Eine Biographie erschienen
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