Das Plakat erinnert an den Linienplan einer Fluggesellschaft. Städte weltweit sind mit Punkten markiert und mit Linien verbunden, nur dass diese hier kein erkennbares Ziel haben. Nur eine Stadt ist genannt: Belgrad. Dritte internationale Konferenz. Wie schon öfters denke ich: Da könnte ich ja hinfahren, wieder einmal aktiv werden.
Später, im Internet, auf der website von Peoples Global Action (PGA) steure ich das früheste Datum, 1998, an. Ich entsinne mich genau. Kaum hatte die U-Bahn ihre Türen geöffnet, strömten wir Richtung Ausgang. Pfeifen, Trommeln und vereinzelte Begeisterungsschreie hallten unter der Erde. Haufen von buntgekleideten Menschen quollen aus den Schächten auf den Alexanderplatz. Von der Menge mitgerissen, fand ich mich auf eine
h auf einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Stadt wieder, umzingelt von hupenden Autos. In Sekundenschnelle war die Kreuzung besetzt. Kinderwagen entpuppten sich als getarnte Minisoundsysteme, Sofas wurden aufgestellt. Eine bunte Kreidemaske überzog den Asphalt, auf dem wir bis spät in den Abend hinein tanzten.Auf dem Bildschirm nimmt das Ereignis gerade mal fünf Zeilen auf der Liste der weltweiten Aktionen am Global Action Day ein. Stadt an Stadt drängt sich auf der Seite: São Paulo lautete das Ziel eines Sternmarsches von Landlosen und Arbeitern. Auf dem Weg liefen die Protestierenden in Supermärkte, griffen nach Lebensmitteln (die sie später an die Armen verteilen werden). Schritt für Schritt näherten sich die Züge einander. Zehntausende brachen schließlich in die Stadt ein. Fensterscheiben klirrten, Steine flogen durch die Luft, Demonstranten rannten durch die Straßen, gefolgt von den Kugeln aus den Maschinengewehren schwarzgekleideter Polizeitrupps.Kathmandu. Die Hauptstadt Nepals wirkt wie ein Dorf hinter den gewaltigen Bergen des Himalayas. Farmer, Lehrer und Arbeiter diskutierten in einem öffentlichen Forum die Frage: "Nepal and WTO: What to gain? What to lose?" Parallel tagten Minister der WTO in Genf und sahen sich mit einer ehrgeizigen Protestveranstaltung konfrontiert. Politische Gruppen aus aller Welt waren dem Aufruf PGAs gefolgt. Transparente in allen Farben und Sprachen tanzten über den Köpfen und multiplizierten sich zu einem klaren Nein gegen die WTO und das von ihr ausgehandelte Freihandelsabkommen.Ich staune. Das kleine Aktivistengrüppchen von damals nimmt plötzlich das Ausmaß einer globalen Bewegung an. Ich bin Feuer und Flamme. Eine Sekretariatsadresse bietet sich als Anlaufstelle an. 24 Stunden später teilt mir ein Bote namens mail delivery system mit, dass der Empfänger verzogen sei, jedenfalls konnte meine Anfrage nicht erfolgreich überbracht werden.Nach einer einstündigen Weltreise innerhalb der PGA-Koordinaten lande ich auf einer Seite, die auf deutsche Gruppen verweist. Göttingen, Aachen, Hamburg, gerade mal zwei davon sind in Berlin aktiv. Mail delivery system ist mittlerweile zu einem vertrauten Begleiter auf meiner Odyssee geworden, als ich endlich eine Antwort in meiner Mailbox finde. Paula stelle sich gerne für Fragen via mail zur Verfügung, auch wenn ihre ehemals bei PGA vernetzte Gruppe nicht mehr aktiv sei.Summer of resistance 2001. Ein Gipfel jagte den nächsten. Paula und ihre Gruppe GipfelstürmerInnen stürzen sich in die Arbeit. Direct action training, Infoabende, Workshops, eine eigene Website und eine Attacke auf den Reichstag im Schlauchboot. Dann ging die Reise los. Bilder der Gipfelproteste schnellen durch meinen Kopf. Beeindruckende Menschenmassen, die Städte auf chaotische Art und Weise überfüllen. Paula hält nichts davon "immer nur zu reden". "PGA hat von Anfang an Inhalt und Aktion kombiniert. Es ist derzeit das einzige radikal fundamental antikapitalistische und hierarchiefreie globale Netzwerk, das existiert", schreibt sie. Dennoch ist Paulas Gruppe von den Gipfeln herabgestiegen, hat sich distanziert. Reformistische Gruppen wie Großgewerkschaften und attac seien immer dominanter geworden. Da hätten sich die GipfelstürmerInnen dann lieber abgeseilt. Enttäuscht schließe ich meine Mailbox. Die aufregenden Zeiten scheine ich verpasst zu haben.Die Kiezstrasse macht sich breit zwischen den hochgeschossigen Häusern aus dem vorletzten Jahrhundert. Die Stimmen der Obst- und Gemüsehändler und das Gekreisch der Kinder summen in meinem Hörkanal um die Wette. Fahrräder klingeln vorbei, während Bierflaschen vor dem Supermarkt mit lautem Prosit aneinander stoßen. Ein Eimer mit Kleister knallt auf die Straße. Zwei Männer tapezieren die Wände, wiederum mit Peoples Global Action-Plakaten. "Fahrt ihr da hin?" frage ich. Ja, sie wollen nächste Woche zur Konferenz nach Belgrad. Sie kommen aus Polen. Osteuropa wisse so wenig von Vernetzung wie die Vernetzten von ihm wüssten. Bei jedem größeren Treffen gäbe es 20 Workshops zu Lateinamerika, aber für die nahegelegenen Widerstandspotenziale interessiere man sich weniger, meint der Plakatierer, kaum jemand wisse zum Beispiel etwas von den Arbeiterkämpfen, die die Globalisierung derzeit in Polen auslöse. Mobilisieren würden sie vor allem über ihre Zeitung Abolishing the borders from below, Internet gehöre nämlich noch längst nicht zum osteuropäischen Alltag.Viele von den GipfelstürmerInnen sind wieder am Boden angekommen und bewegen sich auf anderen Wegen weiter. Meine eigenen Füße sind mittlerweile wie festgewachsen. Ich starre auf das Plakat ohne wirklich hinzuschauen. "We are everywhere", heißt es dort tröstend. Einer plötzlichen Eingebung folgend nehme ich einen Stift aus der Tasche und male einen zusätzlichen Punkt auf das Papier. "Berlin", schreibe ich daneben und verbinde den Punkt mit den anderen. Eine weitere Linie zeichne ich noch, ihr Weg führt ins Nirgendwo. Wer kann das Ziel heute schon wissen?