Blind wie Ödipus

Literatur Frank-M. Raddatz lotet aus, wie man im Anthropozän die Klimakrise auf die Bühne bringt. Mit Inspiration von Heiner Müller
Ausgabe 15/2021

Beim Weltwirtschaftsforum in Davos sagte Greta Thunberg 2019: „Our house is on fire“ und „I want you to panic“. Ein paar Monate später schleuderte sie den Mächtigen der Welt auf dem UN-Klimagipfel „How dare you!“ entgegen – „Wie könnt ihr es wagen!“. In der Welt des Theaters würde man wohl sagen, dass die Klimaaktivistin damit einen klassischen Kassandra-Auftritt hingelegt hat.

Nun fragt Frank-M. Raddatz in seinem Buch Das Drama des Anthropozäns, wo angesichts der Klimakrise eigentlich eine entsprechende Kassandra auf den Theaterbühnen bleibt. Der Begriff Anthropozän, Zeitalter des Menschen, wurde vom kürzlich verstorbenen Nobelpreisträger und Entdecker des Ozonlochs, Paul J. Crutzen, geprägt. Erderwärmung, Artensterben, Abholzung des Regenwalds, Meere voller Plastik, der Mensch hat so radikal in die Natur eingegriffen, dass Crutzen nicht mehr vom Holozän sprechen wollte, in dem wir uns seit knapp 12.000 Jahren befinden, sondern von einem neuen Erdzeitalter. Der Publizist, Dramaturg und Theaterregisseur Raddatz bringt unsere Gegenwart mit einem Brecht-Zitat auf den Punkt. Nach dem Motto „Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht“, aus der Heiligen Johanna der Schlachthöfe, habe der Planet zum Gegenschlag ausgeholt.

Raddatz hat im vorigen Jahr gemeinsam mit Sabine Kunst, Präsidentin der Berliner Humboldt-Universität, und der Meeresbiologin Antje Boetius das Theater des Anthropozän an den Start gebracht. Konzipiert um den fundamentalen Konflikt von Mensch und Natur, will dieses Projekt Wissenschaft und Kunst stärker vernetzen. Da überrascht es nicht, dass die Kassandra, die Raddatz vorschwebt, eine wissenschaftlich grundierte Figur sein soll. Das Theater des Anthropozän veranstaltete im vorigen Frühjahr die Reihe Requiem für einen Wald im Tieranatomischen Theater in Berlin. Mit Auftritten von Expert*innen aus der Wissenschaft, aber auch mit einer Försterin aus Brandenburg. Und mit szenischen Lesungen von Schauspieler*innen, unter anderem aus dem Werk von Heiner Müller, mit dem Raddatz zu dessen Lebzeiten noch zusammengearbeitet hat. Das Timing war gut, Müllers Krieg der Viren (1995) erscheint gerade wieder erstaunlich aktuell. Seine Worte: „Es ist durch nichts erwiesen, dass der Mensch auf der Erde das herrschende Lebewesen ist. Vielleicht sind das ja die Viren, und wir sind nur das Material, eine Art Kneipe für die Viren“, sind einem in diesem Pandemiejahr oft begegnet. Hier nun erfuhr man, was Müllers Protagonisten passiert, wenn er sie zur Jagd in den Wald schickt.

Auf Augenhöhe mit dem Tier

Der Dialog mit der Wissenschaft ist auch in Raddatz’ Essay Drama des Anthropozäns Teil des Programms. Es ist ein Ritt durch die Theater- und Wissenschaftsgeschichte: Von Sophokles’ Tragödie König Ödipus zu Bruno Latours Kampf um Gaia, vom Theatergott Dionysos, der zwischen Mensch und Tier changiert, zur Anthropologie von Claude Lévi-Strauss. Und von Donna Haraways Parole „Macht euch verwandt“ bis zu „transhumanistischen Positionen“, die Raddatz bei Heiner Müller erkennen will.

Das Buch endet mit einem Gespräch. Der Autor tauscht sich darin mit der Meeresbiologin Boetius und dem Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger aus, über Erdsystemforschung, planetare Gesundheit und die gegenwärtige Corona-Pandemie. „Auf keinen Fall kann das Theater es sich leisten, den Beginn jener gewaltigen kulturellen Transformation zu verschlafen, die mit dem Anthropozän einhergeht“, sagt Raddatz. Die Klimakrise wird die globale Zukunft bestimmen. Sein Buch beginnt allerdings mit der Beobachtung, dass das Theater mit dem Thema ökologische Krisen seine Schwierigkeiten hat, obwohl es sich doch als Seismograf versteht.

Wie kann man den Klimawandel auf die Bühne bringen, lautet die Frage. Das Buch von Raddatz zeigt auch die Suche nach einer theatralischen Grammatik für ein Theater auf der Höhe der Zeit, das seinem Publikum den Verlust von Biodiversität und schmelzende Polkappen vor Augen führt. Den Zweifeln, die der Theaterregisseur Tobias Rausch in einem Essay bei nachtkritik äußerte, ob sich Phänomene wie das Bienensterben, die Ausbeutung der Meere, eine Schneekatastrophe zu theatertauglichem Stoff machen lassen, erteilt Raddatz eine Absage. Dem widerspreche, dass schon das antike Tragödienmodell König Ödipus die Möglichkeit zeige, Erdbeben oder Pestausbrüche auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen und „mithin zu subjektivieren“. Bei Raddatz fällt allerdings unter den Tisch, dass Rausch, der auch studierter Biologe ist, den Klimawandel durchaus auf die Bühne bringt. Zuletzt mit Tornado. Ein Klima-Theater-Desaster am Berliner Theaterdiscounter. Und 2010 ein Langzeitstück am Schauspielhaus Hannover, inspiriert von Alan Weismans Buch Die Welt ohne uns, das die Geschichte der Pflanzen nach dem Ende der Menschheit zeigt. Die Protagonisten? Selbstredend die Pflanzen. Das Projekt würde er im Nachhinein für gescheitert erklären, der Mensch vermenschlicht zwangsläufig, auch war ihm das Resultat zu didaktisch. Einig sind sich aber beide, dass der Bühnen-Kosmos vor allem die soziale Natur zeigt. Der Mensch als Maß aller Dinge, diese anthropozentrische Lesart steht in der Ära des Anthropozän zur Disposition, schreibt Raddatz. Die Dichotomie von Natur und Kultur taugt nicht mehr. Er plädiert für „planetare Kultur“, in der wir neben den Angehörigen der eigenen Spezies, Tiere, Planzen und Landschaften als unverzichtbare Partner auf Augenhöhe anerkennen. Die Natur braucht uns nicht, aber wir brauchen sie – zum Überleben. Raddatz interessieren Verwandlungsprozesse seit dem Drama der Antike, es geht auch um Blindheit und Prophezeiung. Der Visioniär ist natürlich Müller, der schon in den 70ern von Landschaften sprach, die „auf das Verschwinden der Menschen warten“. Ödipus vergleicht Raddatz mit James Watt, der mit der Dampfmaschine das Tor zum Industriezeitalter mit seinem unersättlichen Hunger nach Kohle aufstieß. Und Ödipus sind auch wir, weil wir die Folgen unseres Handelns ausblenden. Wie das als Theaterstoff aussieht, zeigte die Volksbühne im Februar mit der Streaming-Premiere Anthropos, Tyrann (Ödipus) nach Sophokles (Regie: Alexander Eisenach), unter Mitarbeit des Theaters des Anthropozän. Da wurde die Klimakrise ins antike Theben verlegt. Und mit der Meeresbiologin Antje Boetius war auch eine Klima-Wissenschaftlerin auf der Bühne. Nicht als Kassandra, aber als Orakel.

Info

Das Drama des Anthropozäns Frank-M. Raddatz Verlag Theater der Zeit 2021, 134 S., 15 €

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