Von dem amerikanischen Fotojournalisten James Nachtwey erschien vor zwei Jahren ein Band mit dem Titel Inferno, in dem er seine Aufnahmen von den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt versammelte. Den Bildern ist ein Satz von Dante vorangestellt, der besagt, es brauche immer einen Botschafter, um der Welt von den verlorenen Menschen zu berichten. Nachtwey, der vielleicht berühmteste lebende Kriegsfotograf, Mitglied der Agentur Magnum, versteht sich als solch ein Botschafter. Auch wenn seine zuerst in Time oder dem Stern publizierten Bilder nun in einem Kunstkontext erscheinen, sieht er sich nicht als Künstler. Fotografie ist ihm zu allererst ein Instrument, mit dem sich soziales Bewusstsein herstellen lässt. Nachtwey berichtet von Kriegen und Gräueln, vom Tod und dem L
äueln, vom Tod und dem Leiden zu keinem anderen Zweck, als die westliche Öffentlichkeit zu mobilisieren. In einen emphatischen Sinn hofft er, seine Bilder könnten dazu beitragen, dem Elend Einhalt zu gebieten. Deshalb gibt es kaum ein Interview mit ihm, in dem er nicht betont, er selbst bedeute nichts, seine Fotografien hingegen alles. Sich jemandem zu nähern, der so hinter seinem Werk zurücksteht, ist nicht einfach. Der Schweizer Christian Frei hat es trotzdem geschafft. In den Gesprächen mit dem 54-jährigen Nachtwey, einem Mann von ungewöhnlich akkuratem Äußerem, sieht und hört man, wie alles an ihm kontrolliert, überlegt, abgemessen ist. Doch wirkt er dadurch überhaupt nicht eitel. Das verhindert schon die stille, bescheidene Art, in der er über sich und seine Arbeit redet und dabei doch immer wieder auf den sozialen Aspekt der Fotografie zu sprechen kommt. Der Mann tritt auf wie ein Botschafter oder Diplomat, der sich ganz in den Dienst einer Sache gestellt hat. Um uns diesen geheimnisvollen Charakter näher zu bringen, benötigt Frei weitere Gewährsleute: Christiane Breustedt, Chefredakteurin von Geo Saison berichtet, wie sie als ehemalige Bildredakteurin des Stern in New York Nachtwey zum ersten Mal traf, und wie sich eine Freundschaft und eine Zeitlang auch eine Liebesbeziehung zu diesem zurückhaltenden Menschen entwickelte. Der Auslandschef des Stern, Hans-Herman Klare spricht voller Ehrfurcht über Nachtweys Berufsethik; ein mit ihm befreundeter Reuters-Kameramann, der sich oft in den gleichen Krisengebieten aufhält, weiß einige Anekdoten zu erzählen. Alle diese Menschen äußern sich offenherziger über Nachtwey als Nachtwey selbst. Doch auch wenn wir ihn dadurch etwas besser kennen lernen, liegt das Wesentliche von Freis Film nicht in solchen Szenen. Ins Zentrum rückt der Dokumentarfilmer, der mit War Photographer für einen Oscar nominiert wurde, die Arbeit von Nachtwey selbst. Seine Bilder sollen für ihn sprechen; die Art, wie er sie herstellt. Zu diesem Zweck wurde eine besondere technische Vorrichtung konstruiert, die eine kleine digitale Filmkamera so auf dem Fotoapparat von Nachtwey aufpflanzt, dass die Zuschauer nun sozusagen mit ihm durch den Sucher schauen können. Solchermaßen ausgerüstet, begleitet man Nachtwey etwa auf eine Reise nach Indonesien, wo er eine Familie beobachtet und fotografiert, die zwischen den Gleisen der Eisenbahn lebt. Fünf Personen hausen dort auf einer Decke. Der Vater wurde im betrunkenen Zustand vor einigen Jahren von einem Zug überrollt, er verlor das linke Bein und den linken Arm. Nachtwey nähert sich vorsichtig, stellt Augenkontakt mit den Eltern her, gibt ihnen die Hand und ersucht damit um Einverständnis, bevor er seine Fotos macht. Er belässt es nicht bei einem einzigen, schnell gemachten Bild, sondern bleibt eine Zeitlang in der Nähe, beobachtet die Familie bei ihrem Alltag. Er zeigt die zärtliche Beziehung des Vaters zu seinen Kindern, seine Bemühungen, seine Familie so gut wie möglich zu ernähren. Man merkt bei jeder Geste, jedem Schritt und schließlich auch jedem Foto den großen Respekt, den Nachtwey diesen Menschen entgegenbringt, und der für ihn ebenso typisch ist wie die Nähe zu ihnen. Nur ganz selten fotografiert er aus der Entfernung mit großen Brennweiten. Legendär ist ein Bild, das in Südafrika aufgenommen wurde und Nachtwey zeigt, nur wenige Schritte von einem Straßenkämpfer entfernt, der auf die hinter dem Fotografen befindliche feindliche Linie feuert. Anders als so mancher Kriegsreporter kein haltloser Abenteurer, ist er gleichwohl oft genug nur knapp mit dem Leben davon gekommen. Das aber sei nichts im Vergleich zu dem, was die von ihm fotografierten Menschen durchmachten, meint Nachtwey, und bietet deshalb keinen Stoff für packende Geschichten, die man dann in Interviews genüsslich ausbreiten könne. Aus der Dokumentation der Arbeitsprozesse von Nachtwey löst Frei dann immer wieder ein Still heraus; eine Fotografie, so wie sie schließlich publiziert wurde. Diese Bilder anzuschauen ist nicht immer einfach. Es gilt weniger für die oben geschilderten Aufnahmen aus Indonesien, die dem Genre der sozialen Bildreportage zuzurechnen sind, sondern eher für seine Kriegsbilder, wobei Nachtwey bevorzugt nach Beendigung der Kampfhandlungen mit der Arbeit beginnt. Zu Beginn der Dokumentation sieht man ihn in den Kosovo reisen, um von Raketen getroffene Häuserruinen und ausgebrannte Autowracks zu fotografieren. Er macht auch Bilder von den Massengräbern und den Bemühungen einer internationalen Kommission, die völlig entstellten Leichen zu identifizieren. Man sieht ihn schließlich weinende kosovo-albanische Frauen fotografieren, die den Tod ihrer Männer und Söhne beklagen. Und sie klagen immer dann besonders laut, wenn Nachtwey durch den Auslöser schaut. Es sieht ein bisschen so aus, als geschähe alles auf Kommando, denn wenn der Fotograf sein Objektiv senkt, die Filmkamera aber weiterläuft, beruhigt und normalisiert sich ihr Verhalten. Es soll hier keineswegs behauptet werden, die Frauen würden Nachtwey etwas vormachen. Aber man fühlt sich doch an eine Bemerkung zur Kriegsfotografie erinnert, die Peter Handke in seinem pauschal verunglimpften Buch über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien anstellt: "Diese (Kriegsopfer), so war es jedenfalls nicht selten zu sehen, posierten zwar nicht, doch waren sie durch den Blick- oder Berichtswinkel deutlich in eine Pose gerückt: wohl wirklich leidend, wurden sie gezeigt in einer Leidenspose." Zuzusehen, wie sich hier Menschen mehr oder weniger unbewusst für die Bilder eines westlichen Journalisten in Szene setzen, ist etwas beklemmend. Das Elend, das Nachtwey mit seinen Fotografien öffentlich machen will, scheint bei ihm häufig zu einer wohl komponierten Ikonographie geronnen, die vielleicht weniger mit der momentanen Situation der fotografierten Leute zu tun hat, als es auf den ersten Blick scheint. Wenn dann im Hamburger Büro des Stern die Journalisten um eine Fotowand herum stehen und Nachtweys Kriegsbilder nach ästhetischen Gesichtspunkten auf den höchsten Schockwert hin gruppieren, macht das die Bedenken nicht kleiner. Es ist doch sehr deutlich, dass es um den unbedingten Effekt geht; vielleicht, weil Nachtwey nur der gewählten Inszenierung zutraut, Öffentlichkeit zu mobilisieren. Es ist freilich gerade das Bemerkenswerte dieses Dokumentarfilms, solche Überlegungen zuzulassen, in dem er uns am Entstehungsprozess der Bilder teilhaben lässt. Christian Frei teilt damit etwas über die Natur der (Kriegs-)Fotografie mit, die immer wieder naiv als unmittelbar erlebt und beschrieben wird. Sie ist aber - natürlich - ein Produkt. Dieses Moment zu betonen ist umso wichtiger als der Regisseur Frei den Fotografen Nachtwey in seinen Gesprächen nicht mit kritischen Einwänden konfrontiert. Auf eine ähnliche Weise implizit kritisch ist eine Szene mit Christiane Breustedt, die laut überlegt, ob Nachtwey mit seinen Fotografien nicht am Elend der Welt verdiene, es für seinen persönlichen Ruhm ausbeute. Dass sie solche Fragen schließlich verneint und Nachtwey absolute moralische Integrität bescheinigt, ändert nichts daran, dass es gut war, sie zu stellen. Das stärkste Argument für die Arbeiten von James Nachtwey ist aber James Nachtwey selbst. Denn seine alles andere als selbstgefällige Haltung wirkt auf die Bilder zurück. Sein endlos wiederholter Satz, er selbst sei nichts und seine Fotografie sei alles, ist gerade aus diesem Grund allerdings unzutreffend.
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