"Ich weiß nicht, ob ich das aushalten kann ..."

Nicht nur Sirenen-Crescendo Die Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen beschäftigten sich mit dem Thema Katastrophe

In Heiner Eggers Zeitungsroman Der Eiderbote erhalten wir Kunde von einem Ressort, das in der deutschsprachigen Presselandschaft wohl seinesgleichen sucht. Bei dem kleinen Blatt in einem ostfriesischen Kaff, das Eggers Buch den Titel gab, arbeitet nämlich ein für "Kino und Katastrophen" zuständiger Redakteur. Auf seinen Seiten vermeldet er den Autounfall auf der Ausfallstraße nach Dithmarschen und die letzte Eskalation im Nahen Osten ebenso wie die Vorkommnisse in den allerneusten Action- und anderen Filmen.
Ist das nicht eine überaus bestechende und nachahmenswerte Idee? Denn allein schon durch seine Technik gehört das Kino ganz und gar einem Zeitalter an, das Unfälle, Kriege und Katastrophen als scheinbar unvermeidliche Kehrseite seines technologischen Fortschritts mit sich brachte. Zuletzt hat sich zudem mit den Ereignissen vom 11. September erwiesen, dass Filme als ein Spiegel der sozialen Verhältnisse taugen, dass sie sozusagen seismographisch zu erfassen vermögen, wie und wo es in unserer Gesellschaft brodelt. Die Allianz ist also einsichtig, wenngleich durchaus prekär, weil keinesfalls immer klar ist, ob die (bewegten) Bilder nun etwas zum besseren Verständnis der Katastrophen beitragen oder sie nur als profitables Spektakel begreifen. Meistens ist es irgend etwas dazwischen. Zwischen diesen beiden Polen pendelten deshalb auch die Filme auf den Internationalen Kurzfilmtagen von Oberhausen, die dieses Jahr zum Thema Katastrophe einen Schwerpunkt zusammengestellt hatten.
Wer sich einen ersten groben Überblick über die einzelnen Programmpunkte verschaffte, dem ging es eigentlich auch nicht anders als beim Blick in die tägliche Zeitung. Filme zu häuslicher Gewalt standen da neben solchen über Umweltkatastrophen und die nahen und fernen Krisenherde dieser Erde. Dazu kamen philosophische und kunsttheoretische Reflexionen zur Katastrophe und zum Katastrophenfilm. Auch verwundert es kaum, dass sich gleich mehrere filmische Stellungnahmen zum 11. September im Programm fanden, darunter eine sehr berührende des New Yorker Altmeisters Jonas Mekas. Der hatte auf seiner Dachterrasse gerade die Kamera aufgestellt, als der erste Turm zusammenbrach. Fünf Minuten lang schauen wir noch einmal zu, wie Rauchschwaden die Stadt förmlich ersticken. Das wirklich Wichtige aber geschieht auf der Tonspur. Man hört nämlich, wie sich die Sirenen und Martinshörner von unzähligen Polizei- und Ambulanzwagen zu einem unheimlichen Crescendo steigern, das aus den Straßenschluchten bis zu seinem Dach heraufschallt. Wut und Hilflosigkeit liegt in diesem Heulen und man bekommt den Eindruck, die Stadt sei ein lebendiger Körper, der über seine Verwundung aufschreit.
Gerade die Filme zum 11. September zeigten ausgesprochen gut den Wert des Oberhausener Sonderprogramms, das einem auf den ersten Blick gleichzeitig zu allgemein und zu beliebig vorkommen konnte. War nicht gerade zu diesem Thema längst alles gesagt und schien nicht jeder weitere Beitrag nur noch der persönlichen Profilierungssucht geschuldet? Doch dann überzeugte die Bandbreite der Filme nachhaltlos, denn allesamt waren sie dazu angetan, dem Anschlag nochmals eine neue Perspektive abzugewinnen. Und selbst wenn sie dabei nur zynische Stammtischphilosophie verbreiteten wie in Great Balls of Fire, belegten sie, dass die Reaktion der Amerikaner längst nicht so homogen und unbedingt patriotisch ausgefallen war, wie es in den europäischen Medien überwiegend den Anschein hatte. Die Vielzahl der Beiträge, die sich gegenseitig kommentieren konnten, sowie der Reichtum der Ansätze waren typisch für ein Gesamtprogramm, das dem Publikum auch vergessene und ignorierte Katastrophen des letzten Jahrhunderts aufschlüsseln konnte, bevor es aktuell in Kommentare eben zum 11. September oder zum Konflikt im Nahen Osten mündete.
Ihren Film This is Not Living über die von Israel besetzen palästinensischen Städte hatte die Regisseurin Alia Arasoughly vor über einem Jahr gedreht, also lange vor der militärischen Intervention der letzten Wochen. Die Lage war freilich schon damals schlimm genug: Weil kaum jemand sich frei bewegen darf, droht der ökonomische, kulturelle und soziale Kollaps. Eine wohlhabende Palästinenserin nimmt für den Weg zu ihrer Boutique jeden Tag eine Fahrt von über drei Stunden in Kauf, die sie ohne Krieg und Kontrollposten kaum eine halbe Stunde kosten würde. Sie verkauft längst nichts mehr, macht sich die Mühe der gefahrvollen Reise aber trotzdem, weil sie die Routine daran hindert, vollkommen verrückt zu werden. Auch der Regisseurin hätten die Militärs die für ihren Film nötigen Mobilität am liebsten untersagt, doch war das längst nicht ihr größtes Problem. Weitaus schwieriger war es etwa, einen Kameramann zu finden. Die Palästinenser, so erzählte Arasoughly in Oberhausen, arbeiten lieber für die gut zahlenden westlichen Medien, denen sie unter Lebensgefahr die gewünschten Bilder von den Frontschauplätzen liefern. Die Auftraggeber verarbeiten sie im sicheren Studio zu ihren täglichen Reportagen. Arasoughly verglich diese Arbeitsteilung mit dem Verfahren westlicher Konzerne, die Rohstoffe aus der Dritten Welt importieren, um sie im eigenen Land zu veredeln.
Gegen solche Produkte setzt sie ihren Film als Gegenentwurf, mit dem sie sich sozusagen die eigene Katastrophe wieder aneignet. Man sieht deshalb auch keine laut wehklagenden Frauen, die in der westlichen Öffentlichkeit zu einem Zeichen für die leidende, aber eben auch hasserfüllte Meute der Palästinenser geworden sind, sondern eine Mutter, die über den gewaltsamen Tod ihres Sohnes völlig erstarrt und tonlos nur immer den einen Satz wiederholt: "Ich weiß nicht, ob ich das aushalten kann." Schließlich betet sie, ihr Kind möge doch das letzte Opfer dieses Krieges gewesen sein und wir lernen dabei gleichzeitig noch etwas über Übersetzung. Mit dem Wort "Märtyrer", das an dieser Stelle in den Untertiteln erscheint, verband das Publikum nämlich sofort eine aggressive, die Selbstmordanschläge legitimierende Haltung. Was die Frau jedoch wörtlich sagt, bedeutet "ein im Krieg Gestorbener" und ist damit kaum geeignet, dass Bild einer fanatischen Fundamentalistin zu evozieren. Es ist schon sehr bemerkenswert, wie Arasoughly auf die üblichen Polarisierungen verzichtet, mit denen so mancher andere Beitrag zum Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern jene Frontverläufe zementiert, die er eigentlich zu bekämpfen vorgibt. Es ist kein Film für oder gegen irgendjemanden, sondern einer über das Leiden. So klug und wohlüberlegt schlüsselt dieser Film eine katastrophale Situation auf, dass man ihn sich gut auf den "Kino und Katastrophen"-Seiten von Hans Eggers Eiderboten vorstellen könnte.

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