Die Hitzewelle ist vorbei, ich sitze trotzdem am Strand. Und zwar am BundesPresseStrand. Es ist gar nicht so übel, wie es klingt, es ist noch viel übler. Hier hört man keine Möwen, sondern nur das Rattern der S-Bahn. Man winkt nicht einsamen Schiffen zu, die romantisch in den Sonnenuntergang segeln, sondern Autos und Linienbussen, die über die Straße donnern. Man riecht auch keinen Fisch, es sei denn, man hat sich welchen von Kaiser´s am Hauptbahnhof mitgebracht und lässt ihn spontan in der Tasche vergammeln.
Das echte Strandfeeling will einfach nicht aufkommen, so sehr ich mich auch bemühe. Ich sitze in meinem klapprigen Liegestuhl und trinke einen Schluck von meiner alkoholfreien Caipirinha, der nur ein schwacher Ersatz für den echten Kick ist.
Die lärmenden Kinder haben Spaß, auch wenn sie beim Buddeln im Sand nach wenigen Zentimetern auf Asphalt stoßen. Die Sandburgen können ohnehin nicht mit dem nahen Hauptbahnhof konkurrieren, und die einzigen Wassermonster sind die zwei übergewichtigen Damen, die sich unbedingt im StadtStrandKleid zeigen müssen, während sie ihre Krampfadern im Mini-Pool kühlen. Die Erwachsenen finden es toll, sie kommen ja auch alle aus Mitte und haben sich die geilsten Klamotten und Messenger-Taschen gekauft, um sich in den Pausen ihrer anstrengenden Werbe- und Designertätigkeiten auf coolstmögliche Art aufzuheizen. Nebenan wird Beach-Volleyball gespielt, von leicht bekleideten Männern, deren braungebrannte Körper dem Betrachter nur vorgaukeln, sie würden tatsächlich existieren, ebenso wie dieser Strand. In Wirklichkeit ist das alles eine Illusion. Wer sieht schon im wahren Leben so aus? Und wer glaubt, dass man sich hier erholen kann?
Ich schaue in die Ferne und entdecke das Kanzleramt. Auch so ein müder Platzhalter für ein richtiges Gebäude. Ich halte meine Hand schützend vor die Augen und meine, unsere Angie dort oben hinter einem der Fenster zu sehen. Als sich jedoch eine Wolke vor die Sonne schiebt, erkenne ich, dass es sich lediglich um einen besonders unförmigen Getränkeautomaten handelt, der wahrscheinlich nicht mehr funktioniert. Ein Restzweifel bleibt allerdings.
Was ist überhaupt noch echt um mich herum? Die Armani-Sonnenbrille der Braut im Strandkorb gegenüber ist schon mal eine Fälschung. Erkennbar daran, dass die vietnamesischen Kinder, die das Ding in freudlosen Nächten hergestellt haben, leider das "R" vergessen haben. Für das Versace-Hawaii-Hemd ihres Begleiters würde ich auch kein Echtheits-Zertifikat ausstellen. Nach kurzem Hinhören wird klar, dass es sich bei den beiden nicht einmal um ein echtes Pärchen handelt, denn er ist schwul, und sie redet die ganze Zeit per Handy mit einer anonymen Freundin - nennen wir sie Mandy - über ihre Probleme mit Alex und Tom, zwischen denen sie sich nicht entscheiden kann. Deswegen lässt sie die Sache erst mal "stereo" laufen, zumal Tom im Bett einfach besser "performt". Während ich mich kurz in den StadtStrandSand übergebe und schnell einen Kindereimer mit bunten Fischaufdrucken über die Bescherung stülpe, überlege ich noch, was sowohl Alex als auch Tom wohl an Mandy finden.
Ich nehme meine Tasche aus Lederimitat und gehe zum Tresen. Während ich mein leeres Caipirinha-Glas zwecks Pfand zurückbringe, höre ich, wie neben mir eine überforderte, aber hippe Mitte-Mutter ihren ungefähr vierjährigen Sohn fragt, was sie denn heute Abend machen wollen. Er weiß keine Antwort. Da schlägt sie dem armen Knirps ein "Brainstorming" vor. Mein Vorschlag wäre, Sohnematz umgehend zum Psychiater zu bringen und Mutti gleich nach dem Sandmännchen mit Vanille-Duftkerzen in Brand zu setzen. Dann wäre der Abend vielleicht gerettet.
Ich verlasse diesen eigenartigen Ersatz-Platz gerade noch rechtzeitig, denn plötzlich, wie aus dem Nichts, kommt ein heftiger Sturm auf. Die heiße Luft hat einem Orkan Platz gemacht, der im Höllentempo über den StadtStrand fegt. Die unbefestigten Sonnenschirme purzeln nur so über die Anlage und reißen Spielzeug, Badelatschen, Kleingeld und unbeaufsichtigte Kinder mit sich. Die Strandkörbe fallen zur Seite und schütten menschenähnliche Besucher in den aufgewirbelten Sand. Entsetzte Schreie um mich herum. Mit allem können wir umgehen, aber nicht mit Naturgewalten, die sind so authentisch!
Zehn Sekunden später ist der Spuk vorbei, und alles ist zerstört. Der Strand ist verschwunden, das Ganze sieht jetzt eher aus wie israelischer Badeurlaub im Libanon. Mandy steckt kopfüber im Sand, ihr Handy ist verschüttet und wird vermutlich in 2000 Jahren von Archäologen ausgegraben werden und den Beweis für die Existenz intelligenten Lebens auf der Erde schuldig bleiben.
Ich muss lächeln. Meine Freude über den kleinen Vorgeschmack auf die nahende Apokalypse ist nicht nett. Aber sie ist absolut echt.
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