Chrom, so lässt sich den Nachschlagewerken entnehmen, ist ein so genanntes Übergangsmetall, das im Gegensatz zu vielen anderen Elementen in verschiedenen Formen auftreten kann und deshalb viele Wirkungen hat. Es ist entweder extrem korrosionsbeständig und wird als Schutzschicht auf andere Metalle aufgetragen, was man gelegentlich an Autofelgen bewundern kann. Oder es ist extrem freigiebig mit Elektronen, weshalb man es als Katalysator für chemische Reaktionen einsetzen kann. Oder es ist extrem anpassungsfähig und paart sich mit allem, wodurch eine Fülle von farbenfrohen Salzen entsteht, die unter anderem Grundlage für die Grünfärbung von Flaschen oder das weithin bekannte Postgelb waren. Und die diesem Stoff zu seinem Namen verholfen haben: Das griechische "Chroma" bedeutet Farbe.
Die Namen von Internetbrowsern bezogen ihre Namen in der Vergangenheit aus einem quasi-kolonialistischen Bedeutungsfeld. Pionier Netscape nannte sein Programm "Navigator", Nachzügler Microsoft schickte einen "Explorer" in die Welt, und während diese beiden auf ozeanischen Weiten unterwegs waren, ging Apple im Landesinneren auf "Safari". Unter den obskuren Nebenprodukten für alle möglichen Plattformen gab es einen "Konqueror", einen "Emissary", ein "Contiki", einen "Skipper", einen "Voyager" und einen "Sputnik". Und selbst das erfolgreichste Gegenprodukt, der Open-Source-Erfolg "Mozilla Firefox" passt in dieses Schema, weil der Feuerfuchs und die an Godzilla erinnernde Echse des Firmenlogos den Phantasieräumen des 19. Jahrhunderts entsprungen sein könnten, die in vergessenen Welten allerlei ungewöhnliches Getier vermuteten. Das Internet, so die implizite Logik dieses topischen Feldes, wurde verstanden als permanente Entdeckungs- und Eroberungsreise. Und damit als fortwährendes Versprechen auf neue Schätze und Herrschaftsräume. Was automatisch zu Konkurrenzen und Konflikten führte. Dem Browserkrieg der späten neunziger Jahre zum Beispiel.
Dass Google seinen eigenen Internet-browser nun "Chrome" nennt, zeigt, dass das Unternehmen mit dieser Definition des Internets nichts zu tun haben will. Es hätte eine ähnliche rhetorische Volte vollführen und den Browser "Conquistador", "Admiral" oder "Emperor" nennen können, um allen zu zeigen, wer Herr dieser Welt ist. Aber nichts dergleichen. Stattdessen heißt der Browser nun nach einem extrem anpassungsfähigen Element, das eine Vielfalt von Formen und Farben hervorbringen kann.
Im Internet-finden heißt Googlen
Vor gut zehn Jahren, am 7. September 1998, erschien Google in der Öffentlichkeit - als fast leere weiße Seite, auf der es kaum mehr als das große Logo und die kleine Eingabezeile mit den zwei Suche-Links gab. Nur noch den Hinweis "Index contains 25 million pages (soon to be much bigger)", der sich nun, zehn Jahre später, da Google mehr als eine Billion Seiten auf seinem Suchindex stehen hat, also den 40.000-fachen Umfang besitzt, nicht mehr als prophetisch verstehen lässt, sondern als Ausdruck von unendlicher Selbstgewissheit, dass die eigene Sache funktionieren wird.
Wie sie genau technisch funktioniert, können bestimmt einige Menschen erklären. Wichtig für den enormen Erfolg ist allerdings, dass es die Geschichte vom Geheimcode gibt, der von einer ausgewählten Schar ständig perfektioniert wird - ähnlich dem Coca-Cola-Rezept oder der Kentucky-Fried-Chicken-Gewürzmischung. Denn etwas, was so gut funktioniert und so umfassend in den Alltag aufgenommen worden ist, darf nicht profan werden, weil es sonst als Objekt der Wahrnehmung verschwinden würde. Aus diesem Grund strengt Google inzwischen viele Rechtsverfahren an, um den Gebrauch des Wortes "googeln" in Wörterbüchern und journalistischen Texten auf "mit der Suchmaschine Google im Internet suchen" zu beschränken und ihn nicht mehr synonym mit "Internetsuche" zu verwenden. Andernfalls würde "googlen" zum Fön werden, der einst eine eingetragene Marke der Firma AEG war und inzwischen von hunderttausenden Herstellern in hunderttausend Qualitätsstufen produziert wird und deshalb die gleiche Bedeutungskraft wie fließend Wasser, Asphaltstraßen oder elektrisches Licht hat.
Die weiße Seite mit dem Logo und der Eingabezeile sollte zeigen, dass Google nicht eine bestimmte Sache ist, die man im Internet finden kann und die man dort benutzt.Vielmehr sollte auf dieser tabula rasa alles möglich sein: Das, was man bereits kennt, das, was man noch kennen lernen möchte und das, was man sich noch gar nicht vorstellen kann. Google wollte von Anfang an nichts entdecken und erobern. Google wollte, dass alles von allein kommt und sich selbst einrichtet. Es - und anders kann man diese diffuse Gemengelage von Firma, Marke, Produkt und Philosophie nicht bezeichnen - ist ein Substrat, auf dem alles wächst.
Dieses Wachstum von allem hat Google mit zunehmendem Erfolg immer weiter befördert, indem immer neue Bereiche als tabula rasa hergerichtet wurden. Auf "Google Books" können sich nicht nur Internet-Inhalte ansammeln, sondern auch gedruckte Informationen; auf "Google Earth" versammeln sich immer mehr geographische Details der Welt, die durch "Google Maps" mit immer mehr zivilisatorischer Einschätzung versehen werden können; auf "Blogger" können immer mehr Menschen immer mehr Texte platzieren, die sonst nirgendwo veröffentlicht worden wären; auf "Youtube" sind immer mehr Filme zu sehen, die entweder verschwinden würden oder gar nicht erst produziert worden wären; auf "Orkut" kann man Menschen treffen, die man sonst nicht getroffen hätte, weil man ihnen nicht hätte begegnen können; auf "Google News Archive Search" soll man künftig in alle Zeitungsseiten aus allen Zeiten suchen können.
Es wurden aber nicht nur Umgebungen für bereits Vorhandenes bereitgestellt, sondern auch solche, in denen man überhaupt erst einmal etwas produzieren kann: Briefe in "Gmail", Telephongespräche in "Google Talk", Dokumente in "Google Text Tabellen". Die Bereitstellung eines eigenen Browsers mutet da fast wie eine überfällige Bagatelle an, eine Selbstverständlichkeit, die man während der umfassenden Expansion einfach vernachlässigt hat, weil es so viel Spannenderes zu tun gab. Aber erst dieser Schritt hat die Kommentarlage zu Google eskalieren lassen. Erst jetzt lassen sich überall die Warnungen vor Google vernehmen, die bisher vereinzelt und eher in Spezialkanälen wie Computermagazinen oder Technikseiten geäußert wurden und als Geek-Talk abgetan worden sind. Unverständlich, weil sich an Googles Philosophie nichts geändert hat, absolut verständlich, weil der Browser die überzeugendste Metapher darstellt, diese Philosophie anschaulich zu machen.
Bald Monopolist in Lebensfragen?
Was schlimm ist an Google, hat zum Beispiel Jo Bager schon vor zwei Jahren in der Zeitschrift c´t formuliert. Als "Datenkraken" hat er Google bezeichnet: "Google ist kein gemeinnütziger Verein, sondern ein nach Profit strebendes, börsennotiertes und somit seinen Aktionären verpflichtetes Unternehmen. Die Benutzerdaten sind so etwas wie eine stille Kapitalreserve für schlechtere Zeiten, die Google eines Tages in klingende Münze verwandeln könnte." Google, so lautet dieses Argument, ist eine riesige Maschine, um seine Benutzer zu Kunden von Wirtschaftsunternehmen zu machen. Diese immer wieder geäußerte Kritik ist berechtigt. Google ist wie der Kellner, der fragt, ob alles in Ordnung sei und ob er noch etwas bringen könne, und der somit perfider Agent einer Institution ist, der es darum geht, den Restaurantbesuchern immer mehr Essen und Getränke anzudrehen. Google ist wie der Automobilhersteller, der ein verschlagener Handlanger eines Systems ist, das nur darauf aus ist, Benzin und Reparaturdienstleistungen an die Menschen zu verkaufen. Es ist wie Fernsehsender, Verlage und Musiklabels, die als skrupellose Dealer Sendungen, Bücher und Platten unter die Leute bringen, einzig und allein deswegen, damit diese Leute dann weitere Sendungen, Bücher und Platten haben wollen. Es ist wie Familienmitglieder und Freunde, die nur deshalb Zeit mit einem verbringen, damit man ein Bedürfnis entwickelt, weitere Zeit mit ihnen zu verbringen.
Wir geben permanent Daten von uns preis. Unser Kleidungsstil folgt bestimmten Mustern, die anderen etwas über uns sagen können. Was wir sagen, kann von anderen gehört, verstanden und bewertet werden. Wo wir sind, wenn wir essen, tanzen oder entspannen, verrät, was wir mögen und was uns vielleicht gefallen könnte. Man kann sogar sagen, der Mensch als Sozialwesen, unsere Gesellschaft würde überhaupt nicht funktionieren, gäbe es nicht diese Preisgabe von Daten. Das Google-Modell einer ständigen Häufung von Daten, die durch Verknüpfung und Indizierung zu Informationen werden, funktioniert nach demselben Prinzip. Mit dem Unterschied, so die Kritiker, dass wir in der Gesellschaft selbst darüber bestimmen könnten, welche Daten wir preisgeben, Google hingegen schöpfe klammheimlich Privates ab und verwende es ohne unser Wissen weiter.
Auch wenn es fragwürdig ist, ob persönliche Daten in der Gesellschaft stets selbstbestimmt freigegeben werden - manche Feministinnen würden es anders sehen -, der Vorwurf gegen Google ist berechtigt: Es ist ein Monopolist entstanden, der immer stärkere Abhängigkeiten verursacht und immer größeren Zugriff auf die Netzaktivitäten der Nutzer erhält. Dieses Ziel äußert das Unternehmen auch selbst. Geschäftführer Eric Schmidt hat der Financial Times vergangenes Jahr gesagt, Googles Ziel sei es, "dass die Nutzer fragen können, was sie morgen machen sollen und welchen Beruf sie ausüben sollen". Momentan ginge das noch nicht, weil Google "noch nicht einmal die einfachsten Fragen beantworten kann, denn wir wissen nicht genug über euch. Das ist der wichtigste Aspekt von Googles Expansion." Was Google sein will und was es bereits ist, darüber kann es keinen Zweifel geben. Aber wie es das wurde und wie es weiter wächst, das kann man nicht mit den kolonialistischen und frühkapitalistischen Geschichten erklären, die in fast jeder Kritik wieder ausgebreitet werden. Es ist die Krux jeder Manipulationstheorie, dass sie die Menschen, für deren Selbstbestimmung sie einstehen will, zu unselbständigen, dummen Objekten degradiert. Was aber, wenn sie einigermaßen mündig dafür sorgen, dass Google in der Art und Weise funktioniert? Wenn sie bewusst Daten herausgeben, weil nicht nur andere davon profitieren, sondern auch sie selbst? Wenn sie diese Daten sogar fingieren, um zu vorteilhaften Ergebnissen zu kommen? Ähnlich dem fitnessstudiogestählten, sonnenstudiogebräunten, designerklamottentragenden Disco-Beau, der mit seiner coolen Masche viermal pro Woche Sexualpartnerinnen gewinnen kann.
Google hat, anders als Microsoft und anders auch als die explodierten Unternehmen der New Economy, das Internet nie als einen Raum verstanden, in den man einfällt, den man erobert, in dem man sich positioniert und in dem man Waren-, Geld- und Informationsfluss organisiert - kurz: in dem man Krieg führen muss. Stattdessen sah Google das Internet von Anfang an als ein Codierungssystem, mit dem die Welt auf einer abstrakten Ebene indiziert werden kann, um sie immer berechenbarer zu machen. Die Kritik an Google ist richtig, aber sie immernoch mit der falschen Vorstellung verbunden, das Internet sei ein Privatraum wie ein Buch, in das man schaut. Das Internet ist tatsächlich nicht mehr als eine weiße Fläche, auf die Daten gekippt werden, damit sie mit anderen Daten zu Information reagieren. Die dann als neue Daten wieder mit anderen Daten reagieren können, bereits vorhandenen oder neu hinzugekippten. Wenn zur Veröffentlichung von Googles Chrome nun behauptet wird, Google würde nun endgültig synonym mit dem Internet werden wollen, weil Adresseingabe und Suchmaschine gekoppelt sind, weil es nicht mehr nur ein Programm neben anderen ist, weil on- und offline ununterscheidbar geworden sind, weil nun direkter Zugriff auf Cookies mit Nutzerinformationen möglich ist und nicht mehr nur indirekter durch die Toolbars und die Werbelinks, oder ganz einfach, weil die Browseroberfläche seit Anbeginn des World Wide Webs mit dem Internet gleichgesetzt ist - dann ist das naiv. Google war und ist nichts anderes als das Internet in Reinform. Extrem wandlungsfähig und zur Herausbildung von vielen bunten Formen fähig. Insofern hat sich mit Chrome - und erst recht mit Google News Archive Search - überhaupt nichts geändert.n
Mathias Mertens ist Literatur- und Medienwissenschaftler am Institut für Medien und Theater der Universität Hildesheim. Zuletzt erschien von ihm: Kaffeekochen für Millionen. Die spektakulärsten Ereignisse im World Wide Web, Campus, Frankfurt 2006.
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