Systemsprenger oder Systembewahrer?

Klimabewegung Anders als frühere Jugendbewegungen werden die „Fridays for Future“-Aktivist*innen von Politik und Wirtschaft unterstützt und umgarnt. Das hat strukturelle Gründe
Die Nähe zwischen Fridays for Future, Wirtschaft und Politik ist größer als noch bei früheren Umweltbewegungen
Die Nähe zwischen Fridays for Future, Wirtschaft und Politik ist größer als noch bei früheren Umweltbewegungen

Foto: Yann Schreiber/AFP via Getty Images

Eines ist unstrittig: der aufrüttelnde Charakter einer Jugend, deren Sorge um eine lebenswerte, naturnahe Welt sich in Demonstrationen äußert. Wenig Beachtung findet dagegen der strukturelle Hintergrund, der vor allem von jungen Menschen getragenen Klimademonstrationen. Fridays for Future begann als Jugendbewegung und erfährt Zuspruch von allen Generationen. In der Vergangenheit ernteten Jugendbewegungen allenfalls ein Kopfschütteln von den älteren Generationen. Auch die Demonstrationen der „68er Generation“ und die Anti-Atomkraft-Bewegung im darauf folgenden Jahrzehnt stießen auf eine massive Ablehnung gesellschaftlicher Eliten.

Seit Fridays for Future regelmäßig auf die Straße gehen, hat jedoch eine erstaunliche Solidarisierung aus Politik und Wirtschaft mit der Bewegung stattgefunden. Man könnte den Eindruck gewinnen, alle hätten nur auf den Impuls gewartet, um einen allfälligen gesellschaftlichen Wandel anzustoßen. Erstaunlich ist diese Unterstützung vor allem, wenn man sie mit den Reaktionen aus Politik und Wirtschaft gegenüber der Anti-Atomkraft-Bewegung in den 1970er Jahren vergleicht. In Wackersdorf, Gorleben, Brokdorf oder Grohnde sahen sich die Demonstant*innen vor über 40 Jahren einem massiven Polizeiaufgebot gegenüber. Anlässlich ihrer Jahrestage schafften es die „Schlacht um Grohnde“ und der „Gorlebener Treck“ erst kürzlich mit Ausstellungen in die Museen. Während Demonstrationen gegen Atomkraftwerke mit polizeilicher Gewalt beantwortet wurden, können die Vertreter*innen der Klimabewegung die Abkehr von fossilen Energieträgern vor den Eliten aus Wirtschaft und Politik in Davos und bei der UNO vortragen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, womit sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Reaktionen auf zwei Umweltschutzbewegungen erklären lassen. Erschöpft sich die Antwort tatsächlich in der (berechtigten!) Sorge vor dem Klimawandel?

Strukturelle Differenzen

Wollte man den historischen Unterschied mit Einsicht von Politik und Wirtschaft angesichts einer klimaschädigenden Wirtschaftsweise erklären, so setzt man sich dem Vorwurf des Idealismus aus. Entscheidend sind vielmehr die strukturellen Grundlagen von Handlungen und Motivationen. Wie sinnvoll vor 40 Jahren ein Verzicht auf die hochriskante Atomtechnologie gewesen wäre, hätte auch vor dem empirischen Beleg durch Harrisburg, Tschernobyl oder Fukushima erkannt werden können. Vielmehr gilt für eine sozialwissenschaftlich fundierte Interpretation gesellschaftlicher Erscheinungen das Primat materieller und nicht zuletzt ökonomischer Faktoren.

Vergleicht man den ökonomischen Kontext der Umweltbewegung in den 1970er Jahren mit dem der aktuellen Klimademonstrationen, dann werden strukturelle Differenzen sichtbar. Bis in die zweite Hälfte der 1980er Jahre boomte weltweit der Bau von Atomkraftwerken. Seit den 1950er Jahren bedeutete die Atompolitik für Deutschland auch einen Weg zum Export von Hochtechnologien. Von 1970 bis 1986 stieg die weltweite Kapazität der Atomkraftwerke von 17.656 Megawatt auf 272.074 Megawatt bzw. um 1.440 Prozent. Zwischen 1986 und 2009 hingegen betrug der Zuwachs nur noch 36 Prozent (98.628 Megawatt). Seit Beginn des neuen Jahrtausends setzen Industrie und Politik in Deutschland nicht mehr auf das große Geschäft mit der Atomkraft. Damit wurde ein Wandel eingeleitet, der zwar durch die Katastrophe von Fukushima sowie durch die ungelöste Frage der Lagerung radioaktiver Abfälle unterstützt wird, doch zugleich in einem ökonomischen Zusammenhang zu interpretieren ist.

Wenn, wie Hartmut Rosa darlegt, die moderne kapitalistische Gesellschaft sich nur dynamisch stabilisieren kann, dann ist damit der kontinuierliche technologische Wandel angesprochen. Hier ordnet sich auch die Umstellung auf andere Techniken der Energiegewinnung und in der Mobilität ein. Ökonomen verweisen auf die langanhaltende ökonomische Krise und fordern eine „schöpferische Zerstörung“ (Schumpeter), also die Vernichtung alter Güter, um neuen Technologien Platz zu verschaffen. Die Entwicklung erneuerbarer Energieträger entspricht nicht nur technologischem Fortschritt, sondern folgt zugleich der ökonomischen Logik innerhalb eines kapitalistischen Systems. Entlarvend ist da der Slogan eines Anbieters von Elektrorollern, der ein „Leben auf der Überholspur“ verspricht. Ohne viel Fantasie erahnt man die Übereinstimmung der Interessen zwischen Ökologie und Ökonomie. Ziel der Bundesregierung ist es, Deutschland weiterhin als führende Industrienation in seiner technologischen Vorreiterrolle zu bestätigen. Während Deutschland die Marktführerschaft in Umwelttechnologien anstrebt, droht es jedoch von China abgehängt zu werden.

Ein Innovationsschub hilft auch der Wirtschaft

Jetzt mag man argumentieren, wenn innerhalb der kapitalistischen Systemlogik positive Effekte wie die Stabilisierung des Weltklimas erreicht werden, dann sei das doch zu begrüßen. Schnell blendet man dabei aber die Folgen aus. Vielleicht gelingt es noch, akzeptable Arbeitsbedingungen ohne Kinderarbeit beim Schürfen seltener Erden für unsere Akkumulatoren zu schaffen. Allerdings wird man den Zwang zur sich beständig steigernden und beschleunigenden technologischen Entwicklung ebenso wenig brechen wie die stete Suche nach neuen Absatzmärkten. Gerade für die Automobilwirtschaft als Schlüsselindustrie stellt sich jedoch in den entwickelten Industriestaaten das Problem gesättigter Absatzmärkte. Da bietet die Forderung, innerhalb von zehn Jahren Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren aus den Innenstädten zu verbannen, die Chance auf einen unter anderen Voraussetzungen kaum zu verwirklichenden Wachstumsschub auf dem Automobilmarkt.

Im Unterschied zu der Anti-Atom-Bewegung in den 1970er Jahren erfahren Fridays for Future Aktivist*innen Unterstützung aus Politik und Industrie, da sie mit ihren Forderungen einen beschleunigten, ökonomisch notwendigen Innovationsschub unterstützen. Erst im strukturellen Zusammenhang erschließen sich die Hintergründe beider Umweltbewegungen. Während die Forderung nach Abkehr von der Atomenergie vor über 40 Jahren eine Bedrohung für die wirtschaftspolitische Weltmarktposition der Bundesrepublik darstellte, eröffnet der aktuelle Aufbau regenerierbarer Energietechnologien Chancen im globalisierten Wettbewerb.

Auch wenn aus den Reihen der Bewegung vereinzelte Forderungen nach einem wirtschaftspolitischen Wandel gestellt werden, zeigt sich im strukturellen Kontext, dass die Klimabewegung die ökonomische Logik des kapitalistischen Systems nicht infrage stellt. Während auf Seiten der Industrie das „große Geld“ eines überfälligen technologischen Entwicklungssprungs wartet, wird auf der Seite von Klimaaktivisten die Utopie einer naturnahen Lebensweise erträumt.

Mathias Wagner ist Dozent für Soziologie an der Leibniz-Universität Hannover

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