Die Mauer in unserem Leben

Berliner Tabu Nur nicht sehen, woran man sich stößt

Wie gut, dass es die Mauer gab! Was könnte man der PDS eigentlich sonst noch vorwerfen - die Themen "SED-Vermögen" und "Stasi" sind in vergangenen Wahlkämpfen verbrannt. Die Menschen, die an der Mauer starben, werden als Untote, als Wiedergänger, bis heute vernutzt. Wie gut, dass es die Mauer gibt! So können sich jetzt alle Beteiligten anstrengen, sie zu stürzen, jeder von seiner Seite her. Und wenn sie dann eines Tages wirklich gefallen sein sollte, geht man vielleicht zum Nahkampf über, mit Scheren und Pfefferspray. Oder man schreit "Wahnsinn! Wahnsinn!" und tauscht Frühstückstullen aus.

In Wahrheit haben die Berliner den Fall der Mauer nicht einen Tag lang akzeptiert - höchstens toleriert, wie man heutzutage feinsinnig unterscheidet. Da konnten sie noch so viele Tränen der Rührung verdrücken und die glückliche Fügung lobpreisen! Erinnert sich noch jemand, wie BILD schon am 10. November 1989 für alle Menschen deutscher Zunge dekretierte, es sei ab sofort verboten, von Ost- und West-Berlin zu sprechen? Ohne diese politischen Koordinaten wüssten wir doch bis heute gar nicht, wie wir aneinander vorbeireden sollten in dieser Stadt! Natürlich ist die Mauer viel durchlässiger geworden. Es herrscht ein reger kleiner Grenzverkehr. Westberliner hausen im Osten, wo es chic ist, gehen im Osten ins Theater und lassen die Ostberliner vor dem Fernseher sitzen. Heerscharen kommen allmorgendlich über die Zonengrenze, um den Osten freiheitlich zu verwalten und immer hübscher zu möblieren. Seit zehn Jahren wird ganz Berlin von Westberlin aus regiert, doch die Regierenden sind nur mit dem Hintern im Osten angekommen. Die agile Frontstadtclique hat lediglich ihren Wirkungsbereich erweitert. Die Mauer trennt die Sieger von den Verlierern. Und der Ekel voreinander ist noch ekliger geworden.

Viele Ostberliner Wähler haben die in sie gesetzten Erwartungen an ihre Bildungsfähigkeit nicht erfüllt - nicht einmal die, die keine Bonzen waren, sind in die SPD gegangen. In dieser Situation hilft die Mauer - die Mauer des Schweigens -, den Frieden in der geteilten deutschen Hauptstadt zu erhalten. Seit einigen Jahren herrscht ein effektives Stillhalteabkommen, und die Stadt lebt mit einem Tabu: Nur nicht die Mauer sehen, an der man sich stößt. Es gilt als uncool zu fragen: "Bist du Ossi oder Wessi?" Beide Seiten beteuern ungefragt, auch auf der jeweils anderen Seite anständige Menschen getroffen zu haben. Die Ostberliner simulieren ihren Freiheitsgewinn. Nicht dass es ihnen schwer fiele - in der Simulation sind sie seit Generationen geübt. Aber die Kränkungen sitzen tief. Sich sein Leben "von denen drüben" evaluieren zu lassen, ist eine Schmach, die manchen die Diktatur der Partei in einem freundlicheren Licht erscheinen lässt. Selbst wenn die PDS sich ins Programm schriebe, sie wolle den Mond verstaatlichen: Sie würde dennoch gewählt. Rache ist ein guter Ratgeber. Nur noch ein einziges Mal zeigen, dass man lebt.

Nun bezichtigen sich die Kandidaten vor der anstehenden Wahl gegenseitig der Spaltung, das heißt, sie werfen sich vor, das Stillhalteabkommen zu brechen. Die Logik des CDU-Frontmannes Frank Steffel geht so: Wer von der Mauer spricht, baut sie wieder auf. Der junge Mann hat seinen unbändigen Einheits- und Freiheitswillen auf dem Reinickendorfer Gymnasium gelernt. Er hatte "wunderbare Lehrer" in Antikommunismus, einer seiner letzten war Klaus-Rüdiger Landowsky, der ihm die Herrenreiter-Allüren einbimste und die grobe Sprache lehrte. Am Sonntag stand Landowsky erhitzt daneben, als sein Schützling sich präsentierte und bescheinigte ihm "eine Aura wie Kennedy".

Wenn Gysi den Zeigefinger zückt und ruft: "Da steht sie doch noch immer, die Mauer, seht ihr sie denn nicht!" begeht er eine Unanständigkeit. Er deutet auf das virtuelle Bauwerk, das Diepgen, Landowsky und Strieder zehn Jahre lang so nötig zum Regieren brauchten, wie Ulbricht die wirkliche Mauer. Gysis Regierungsprogramm ist nichts anderes als die Aufhebung der verschämt unverschämten Herrschaft des Westens über den Osten. Es ist ein Ein-Punkt-Programm zur Herstellung der "Deutschen Einheit", zumindest zwischen Hohenschönhausen und Zehlendorf. Ob die Wähler diese Einheit suchen oder aber lieber ihre Mauer behalten wollen, ist völlig ungewiss. Gewiss, man kann von der PDS eine Entschuldigung für die Mauer verlangen. Oder ihre Selbstauflösung. Oder ihre Verwandlung in einen karitativen Verein. Das sind Geschmacksfragen. Aber dass sie klar sagt, dass sie und ihre Wähler mit keiner Mauer leben wollen, sondern mit Gerechtigkeit und in Freiheit, ist das Mindeste, was sie seit dem August 1961 gelernt haben sollte. Und wie es aussieht, hat sie es gelernt.

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