Das Heimatgefühl ist der idyllische Reflex auf die Zumutungen des Frühkapitalismus. Flexibel und dynamisch sagte man der heimatlichen Scholle Valet und lief der Arbeit nach, schlug Hütten am Stadtrand auf, baute Mietskasernen, wurde Vorarbeiter, kinderreich, Millionär, ging stempeln, und später in den Krieg. Immer das heimatliche Idiom auf der Zunge, die Silhouette der heimatlichen Berge hinterm Lid, das Rauschen des Wildbachs tinitusartig im Innenohr - die Bank am Elterngrab nicht zu vergessen! Heimatkitsch war Existenzbedingung der Lohnsklaverei. Es entstand eine Massenproduktion von Waren, die weder konsumiert noch als Werkzeuge benutzt werden konnten und zu hässlich waren, um zwecklos schön zu sein - mit Melancholie aufgeladene Gegenstände (oft musikalischen Charakters). Sie repräsentierten einen scheinbar heilen geografischen Bezirk - die Heimat.
Diese Funktion könnte heute das Knäckebrot aus Burg bei Magdeburg erfüllen. Wenn man den Plan des Verkehrsministers Tiefensee zur Rückholung ostdeutscher Landeskinder aus den Zentren westdeutscher Lohnarbeit vermittels Komprimierung des Heimatgefühls richtig versteht, soll dieser ordinäre Gegenstand etwa folgende Assoziativ-Kette beim Empfänger auslösen: Da also bist du wieder - Knäckebrot! Oh Qual, als man noch mit den Eltern frühstücken musste! Kindheit (Sozialismus) - da war die Welt noch heil. Rübensirup aus dem VEB Sirupwerke Zörbig (Sachsen-Anhalt). Ostprodukt! Wahrscheinlich sogar essbar. Wie mag es der Mutter gehen mit ihrem Arbeitslosengeld? Geht sie mit dem Hund Gassi im Schatten der Industrieruinen des Thälmann-Kombinates zu Magdeburg? Burger Knäckebrot! Zu schade, es aufzuessen. Ab, in die Vitrine, wo schon der Bembel mit der Bauchbinde Gruß aus Stendal steht!
Und da wirkt es dann, das Knäckebrot, und sendet Wellen aus, die langsam aber stetig im Herzen (Heimat und Herz, das ist wie Topf und Deckel) des jugendlichen sächsisch-anhaltischen Auswanderers die Sehnsucht nach der Heimat wachsen lassen, vielleicht sogar die Scham, sie "im Stich gelassen" zu haben. Noch besser eignet sich - dafür hat Tiefensee ein sicheres Gespür - die Hallorenkugel, ein Klumpen aus Fett, Industriezucker und Kakaopulver, der neben der Heimatliebe auch noch jene Art von verwegenem Luxus inkarniert, der den Osten so schön macht.
Auf dem restlos globalisierten Globus gibt es aber keine Heimat mehr. Mit dem ersten Schrei ist auch dem Ostdeutschen Australien oder Rüsselsheim näher als sein Kuh-Köthen. Die Kindheit ist nicht mehr der Akkumulator von Poesie, sondern das Trainingslager, in dem der globale Verkauf der Arbeitskraft eingeübt wird. Die These der Konservativen, mit den Zumutungen der Globalisierungen werde Heimatlibido sturmartig (in Form von "Nationalbewusstsein") über die Kontinente brausen, sozusagen als "ideelle" Kompensation der Produktivkraftentwicklung, hat sich als Wunschvorstellung erwiesen.
Lange schien der Plan der Westdeutschen zu gelingen, mit dem "Wiedererstehen" der ostdeutschen Länder die Heimatliebe als Sekundenkleber für das westdeutsche Modell zu verwenden. Super-Illu und MDR, die Zentralorgane für Heimatgefühl, tümeln sich bis heute nach allen Regeln der Agitation und Propaganda durch diverse Ost-Identitäten. Doch inzwischen ist der Heimatbegriff im Osten nur noch lächerlich. Der reale Kapitalismus hat den heute bis 30-Jährigen jede Bindung an ihre Aufwuchsgebiete ausgetrieben. Junge Leute, die den Osten fliehen, sprechen über dieses Territorium, als würden sie ausspeien. An die Trostlosigkeit, die in den Kleinwohnungen ihrer langjährig arbeitslosen und vielfach umgeschulten Eltern nistet, denken sie mit Grausen zurück.
"Will der uns verarschen?", werden sich wohl einige der Ex-Ossis fragen, wenn sie nach getaner Schicht das Tiefensee-Päckchen in ihrer IKEA-Stube vorfinden. Mit diesem Risiko muss der Absender leben. Tut man ihm nicht Unrecht? Haben wir es hier vielleicht mit einem - das wäre neu! - Politiker zu tun, der zu Ironie fähig ist? So wie man der Schwiegermutter, bei aller Liebe, statt Geschmeide doch eher einen Kaktus schenkt, beglückt Tiefensee die "Verräter" mit Kathi-Kloßmehl aus der Zone. Und ein Jahresabo der Ex-SED-Bezirkszeitung! Mit lieben Grüßen - fresst oder sterbt!
Ironie oder nicht - perfide an Tiefensees Westpäckchen-Aktion ist, dass er wider besseres Wissen suggeriert, man könne die "Heimat" wieder unbeschadet betreten. Sie ist aber, wenn man nicht gerade in Dresden spazieren geht, mehr denn je kontaminiert. Den Heimkehrer erwartet nichts (schon gar nicht Arbeit) und niemand, schon gar nicht die Sippe. Die ruft ihm durch das Interzonenkabel zu: Bleib, wo du bist - etwas Besseres als den Tod findest du überall!
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