Im Osten was Neues

GESCHENKT Schröder und Stoiber in Geberlaune

Am Sonntagmorgen, die Uhr ging auf Zehn, trat in Magdeburg ein zerknautschter Mann vor eine Kamera des Senders Phoenix. Im Hintergrund sah man eine Halle, die sich rasch füllte. Auf der Bühne die Zeichen des Optimismus - ein aufstrebender Pfeil, das magische Wort Zukunft. Die Halle gehörte an diesem Tag der SPD für ihren seit zwölf Jahren ersten Parteitag im deutschen Osten. Der Mann vor der Kamera war Dr. Höppner, wahlkämpfender Ministerpräsident. Ohne erkennbare Not und offenbar im Vollbesitz seiner Kräfte sagte er und sprach: Die Menschen im Osten würden jetzt lernen, wie anstrengend Kapitalismus sei. Sie hätten ihn sich 1990 ja ein bisschen wie das Schlaraffenland vorgestellt. Nun aber würden sie merken - das sei harte Arbeit.
Arbeit? Im Osten? Schön wär´s! Aber immerhin - das ist mal eine originelle Lesart für den in den Beitrittsländern sich ausbreitenden und seit Wochen wiederholt höchst offiziell konstatierten Systemverdruss (der Komparativ von Politikverdrosssenheit): Die Ostdeutschen haben geglaubt, dass sie - auch im Schlummer! - ernährt werden würden und wachen nach nunmehr einem vollen Dutzend Jahren auf und schreien "Hunger, Höppner!". Sie sind eindeutig die falschen Wähler für Dr. Höppner, den Berserker des sächsisch-anhaltischen Aufschwungs. Er kann diese Träumerchen nicht brauchen. Er sollte sich besser von Westdeutschen wählen lassen, die die Arbeit nicht scheuen, die der Kapitalismus nun einmal macht.
Aber dann war erst einmal Bescherung. Herr Thierse war wie immer von sich selbst gerührt, die Urne voller Regine Hildebrandt wurde gedanklich mehrmals sozusagen rein und wieder rausgetragen und nicht viel hätte gefehlt und man hätte ihr, wie früher Stalin bei SED-Begängnissen, einen Stuhl im Präsidium freigehalten. Der Bundeskanzler aber verschenkte zwei Autobahnen nebst Standstreifen und Toilettenhäuschen an die Ostdeutschen! Sagt "Danke", Kinder!
Am Abend dann, als Ulrich Wickert im Fernsehen zur abschließenden Bewertung des Magdeburger Ereignisses blies, war Dr. Höppners zornige Analyse des ostdeutschen Wahlbürgers schon zur "Argu" geworden: Leistungsdruck und Wettbewerb, moderierte Wickert, das mache Wähler, die es gern einfacher haben wollen, nun mal unzufrieden.
Es ist eben alles eine Sache der Einstellung! Was soll es auch sonst sein, wo es nichts mehr zu verteilen gibt? Der Zustand der kommunalen Straßen im Osten nähert sich in diesem Frühjahr dem nach der Schneeschmelze des Jahres 89. Und der andere Hoffnungsträger, Edmund Stoiber, griff schon bei seinem ersten Freundschaftsbesuch in den fünf ostdeutschen Wahlbezirken zum scharfen Messer der dialektischen Analyse: "Wir brauchen in dieser bedrückenden Lage eine bessere Stimmung."
Die Wahlen, heißt es, würden im Osten gewonnen. Oder vielmehr verloren. Das war zumindest neulich so, ob diese Rechnung auch beim nächsten Mal aufgeht? Die Ostdeutschen - wenn sie nicht jung genug sind, um rüberzumachen - verabschieden sich leise aus dem politischen System der Bundesrepublik. Dazu brauchen sie keine Montagsdemos. Dass ihnen im vergangenen Jahrzehnt die politische, kulturelle und wirtschaftliche, Eigentum schaffende Teilhabe an dem blühenden Gemeinwesen Bundesrepublik kaum möglich oder sogar verweigert wurde, dass sie sich (mehrheitlich?) nicht als Bundesbürger kennen lernten - davon sprach Schröder auf dem historischen Magdeburger Parteitag kein Wort. Wie werden die Wahlen im September ausgehen, wenn sich die Ostdeutschen in großer Zahl der Scheinalternative Schröder-Stoiber verweigern und zu Hause bleiben? Dann ist es nur noch die tapfere Stammwählerschaft der PDS, die die bürgerliche Demokratie hochhält.
Hat sich die BRD verhoben, als sie sich die DDR beitreten ließ? Ist mescalero-mäßige Freude angesagt? Nun, zunächst einmal hat das Mutterland aus dem Reichsbahngebiet rausgeholt, was rauszuholen, und dort untergebracht, wer unterzubringen war. Aber nun - wie weiter? Wie kann man dem ostdeutschen Wähler jetzt noch eine Freude machen? Doch wohl nur, indem man ihm die Freiheit schenkt. Edmund Stoiber hat das Programm dafür. Es heißt - in pietätvoller Anspielung auf den berühmten Roman Remarques Im Westen nichts Neues, in dem bei Weltkriegsgrabenkämpfen viel Blut spritzt, passend zum ost-westdeutschen Stellungskrieg - Im Osten was Neues. Stoiber will die Zone - einschließlich der besonderen politischen Einheit Westberlin - zu einer Sonderwirtschaftszone machen, mit leichterem Zugang zu Fördergeldern für Investoren, mit Sozialhilfe für alle, mit Deputatschnaps für die Trinker in Mecklenburg-Vorpommern, der Wiedereinsetzung des Komitees für Unterhaltungskunst unter Führung von Carmen Nebel und dem Goldenen Rodel anstelle des Bundesverdienstkreuzes. Allerdings, so sagen Verfassungsrechtler, müsse Bundesrecht geändert werden, damit dieser kühne Plan Wirklichkeit wird. Also das Grundgesetz.
Ossis, haltet durch, es ist bald geschafft. Diesmal wählen wir noch gemeinsam, natürlich Stoiber. 2006 aber wählen wir uns unseren Staatsrat, und zwar ganz einfach - per Akklamation.

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