Neulich musste der Bundespräsident nach getanem Tagewerk tief Luft holen und sich den Schweiß von der Stirn wringen. Er hat Moral gepredigt, und das ist ja, was er wirklich kann. Diesmal aber kam es ihn hart an: Es galt, alle gleich glücklich zu machen, die Gerechten und die Ungerechten. Das war ein Tanz auf der Rasierklinge. Mit dem hat er sich nun einen Platz in der Geschichtsschreibung der Neustzeit verdient: "Johannes Rau ist ein starker Bundespräsident geworden",legte die FAZ vor Redaktionsschluss fest. Wir sind erleichtert.
Vielleicht war es ja aber auch nur ein starkes Stück - oder ein starker Schluss für ein starkes Stück. Am 22. März hatte der Bundesrat die Brachialklamotte "Hautse, hautse auf die Schnauze!" gegeben. Wowereit spielte den schwerhörigen Advokaten. Koch gab den scharfgeschnitzten Prügelkasper, es hätte nicht viel gefehlt und er hätte mit Schuhen, Brille oder Druckvorlagen geschmissen. Klein Manfred und klein Jörg zerrten einander an den Schlipsen. Und Bernhard Vogel musste sich vor überschießender Sorge um die Demokratie an den Schlaganfall heranarbeiten. Kaum 48 Stunden später wollte Saarlands Ministerpräsident Müller die Inszenierung insgesamt sowie Textsicherheit und Hingebungskraft der Darsteller gelobt wissen.
Worum es eigentlich ging? Um eine Bagatelle! Nur um die Frage, wie viel Zuwanderung die Republik braucht und wie viel Humanität gegenüber Verfolgten und Vertriebenen sie sich leisten will. Schily hatte bereits mehrere Beflissenheitsschübe hinter sich und alles aus dem Gesetz herausformuliert, was nach Mut und Konsequenz aussehen könnte. Es habe schließlich, so Rau, nur am Konsens in Einzelheiten gefehlt. Aber irgendwann musste der Wahlkampf doch beginnen!
"Kaltschnäuziger Verfassungsbruch!", mit diesem Ruf aus Stoibermund endete das Spektakel vorerst, als Wowereit, ganz Diener seines Herrn, die Brandenburger Dissonanz als Ja-Stimme, nicht als Enthaltung gezählt hatte. Und in der letzten Szene sollte nun der Herr Bundespräsident auftreten und einem von den beiden Streithanseln eins auf die Nuss geben. Wir waren gespannt.
In der Sache, wie es so schön heißt, hat er uns enttäuscht. Nicht aber in der Form! In der Sache hat er sich verdünnisiert - und zwar mit guten Gründen. Seitdem gilt er von taz bis FAZ nicht nur als bibelfest, versöhnlerisch und von altväterlicher Witzigkeit, sondern auch als wunderbar bescheiden. Und stark, wie gesagt! Es gäbe so viele Pro zu diesem Streitfall, wie es Contra gäbe und die Vertreter der einen wie der anderen Seite seien ausgemachte Koryphäen. Das Patt sei so außerordentlich, dass man von einem "zweifelsfreien und offenkundigen" Verfassungsbruch schwerlich schwafeln könne - also: "gezeichnet Rau". Nein, er hat es schöner gesagt - wozu haben wir ihn denn! "Aus Respekt vor der Kompetenzordnung des Grundgesetzes" wolle er nicht die Arbeit für die Karlsruher Richter machen, und auch aus Prinzip nicht. Und natürlich nicht, um seinem Amte nicht die Würde zu lädieren, indem er sich den Erwartungen der einen oder der anderen Partei beugt.
Mit der Würde hat er´s. In neun von zehn Fällen, in denen Rau den Mund aufmacht, ist von der "Würde des Amtes" die Rede, die ihn einerseits umtreibt, andererseits dazu verpflichtet, sich grundsätzlich raus zu halten. So lange das Gemeinwesen sich diesen Posten leistet, kann es ihm nicht wirklich schlecht gehen. Würdig wäre gewesen, hätte Rau gesagt: Meine Herren, diese Kraftmeiereien und divahaften Allüren, die Sie sich am 22. März im Bundesrat geleistet haben - das kann doch nicht ernsthaft der Abschluss einer demokratischen Gesetzgebung gewesen sein. Alles auf Anfang, bitte!
Na klar, das darf er nicht - er ist ja nur der Präsident. Dafür aber hat er wunderbar in der Form über Politikverdrossenheit gesprochen, die nun mal wieder "gestärkt" worden sei. Die vielen Briefe, die große Empörung! Das zerschlagene Porzellan! Politischer Streit dürfe nicht "in der Art und Weise inszeniert werden, wie das am 22. März geschehen ist" - höchstens so, wie man das aus dem Bundestag kennt. Und dann die Rüge! Die Rüge, die unter dem Kapitel "Raue Sitten" den Präsidenten unsterblich machen wird! Für alle, die an diesem Tage nicht geschwänzt, sondern sich zum Tumult verabredet hatten - für Stoiber, Schröder, Koch, Wowereit, Vogel! Und natürlich für Jörg, die Rampensau. Und Stolpe.
Stolpe, der später in Potsdam mit tremolotischem Organ den Koalitionsbruch gestand, hat sich eben nicht mit Schönbohm im Kabinett auseinandergesetzt, sondern ihm nur mit Entlassung gedroht - flüsternd! Jetzt hat sich´s ausgeflüstert. Und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass wir einen omnipotenten Präsidenten haben: Was der Spiegel in zwölf Jahren nicht, das hat Rau mit einem "Du, Du, Du!" geschafft - Stolpe geht. Und Vogel, hieß es am Montag, kommt. Nach einem Wahlsieg der Union soll er unser aller Präsident werden. Hoffentlich ist bis dahin seine Rüge gelöscht.
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