Zu alt, zu anspruchsvoll, überreglementiert, übergewichtig, kinderfeindlich und pessimistisch. - So sind wir. Das bedeuten uns die Menschen, die unsere Probleme lösen können sollen, drei Mal am Tage - direkt und/oder durch die Blume. Und dass es so nicht weitergehe, wenn es so weitergehen soll...
Aber zur Weltmeisterschaft in einer populären Ballsportart soll alles anders sein! Da wollen wir aus dem Stand heraus präsent sein - angestupst und sofort aufgewacht! Wie Johannes Heesters, wenn er ins Maxim getragen wird. Auf jung geschminkt und ausgeleuchtet, optimistisch bis zum Abwinken, zu Albernheiten unter neckischen Mützchen aufgelegt. Ein perlendes Lachen wird aus kollektiver Kehle keckern. Auf den Plätzen vor den Großbildwänden werden wir, angetan mit WM-Shirts von der Telekom, einander an den feuchten Händen fassen und das Leben feiern. Und ein Schock vorpubertärer Knaben, die unsere Ballspieler ins Stadion führen können, werden wir dank der "Bitte, melde dich!" - Aktion eines flächendeckenden Fast Food-Händlers selbst in dieser arthritischen Republik noch finden.
Dass den Deutschen die Regression ins Infantile bevorstehen würde, dafür gab es Anzeichen. Erst der peinlich-heilige Moment, als Gerhard Schröder, ein Mann, der damals noch über Reputation verfügte, im Verein mit Show-Größen annähernd stundenlang die Daumen aufs Fäustchen und die Lippen zusammen presste, um die WM nach Deutschland herbeizubeten. Später dann die menschengemeinschaftliche Babysprache der Kanzlerin. Und jetzt warten wir ungeduldig, dass man uns Rasseln, Ratschen und Tuten in die Hände gibt, mit denen wir um den - zum Fußballturm verwunschenen - hauptstädtischen Fernsehturm herumflitzen können.
Das Gemeinwesen ist gerade dabei, in eine gefühlte Wirklichkeit hinüberzuwandern. Als hätte es jetzt schon einen Geschäftsklimaindex anzuheben. Die Übergänge zwischen dem, was ist, und dem, was bitteschön sein soll, verschwimmen. Sind die Kinder, die von Schwarz-Rot angemahnt werden, schon gezeugt oder doch erst im Geahnten? Kann man unter dieser Bundesregierung schon krank werden oder muss man noch gesund bleiben? Sind wir vorerst nur Papst oder schon Weltmeister? Träumen wir oder wachen wir? Elterngeld oder Gebärrabatt? Die Kanzlerin sagt, wie man beides gleichzeitig tut ("Jeden Tag eine gute Tat!") und zeigt wie es geht: Man beruft einen Fußballgipfel ein und zeigt mit dem Finger über die Kaffeetasse in jene Richtung, in die gefälligst der Ball zu fliegen hat. Und schon fühlt sich Deutschland besser an, und Klinsmann muss eine volle Arbeitswoche durchstehen. Geht doch.
Aber nicht übermütig werden! Ernstes ist zu bereden. Seit dem letzten (allerdings verlorenen) Weltkrieg gab es kein Ereignis mehr, das sich den Deutschen als Gemeinschaftsaufgabe anbot. Weltmeisterschaft im Rasenball - das ist erhebender als Wiedervereinigung, Jahrtausendflut oder Volkes Angst vor Vögeln! Das werden wir uns nicht kaputtmachen lassen. Da werden Pflöcke eingeschlagen, die drin bleiben werden: Die Bundeswehr wird künftig für Volksfeste aller Art unerlässlich sein. Und der zuständige Minister wird jedes verdächtige Fluggerät runterholen können, wenn es einen deutschen Durchmarsch aus den Tiefen des Raums auf ein gegnerisches Tor stören könnte. Außerdem sollten wir gegenüber Fremden, die zwar "Zu Gast bei Freunden" sind, aber unsere Hymne nicht textsicher können und unsere Abseitsregeln missbrauchen wollen, höflich und bestimmt auftreten: Bis vor ein paar Wochen sah es so aus, als wollten die Muslime den Karikaturenkrieg im Berliner Olympiastadion gewinnen. Jetzt droht "der Irre von Teheran" (Bild) sein Erscheinen im islamischen Fanblock an. Die Polen versichern, sie seien die besoffensten Ball-Enthusiasten der Welt und beabsichtigten unsere Stadien beziehungsweise - wenn sie keine Eintrittskarten kriegen - unsere Städte zu zerlegen. Die Holländer werden mit Wehrmachtshelmen in Orange aufmarschieren, um Deutschland ein schlechtes Gewissen zu machen, und Schilder hochhalten "Gebt sie zurück!" - die auf Tausende Hollandräder anspielen, die von der Wehrmacht geklaut und zur Stahlschmelze ins Reich geschickt wurden.
Irgendwie geht es also auch um deutsche Ehre. Nicht umsonst heißt es Nationalmannschaft, und nicht umsonst mühen wir uns zu glauben, dass unsere Sportler für Deutschland spielen. "Titan"-Kahn hat uns allen und der großen Koalition das Pathos zurückgegeben. "Es geht hier nicht nur um Oliver Kahn", hat Oliver Kahn über Oliver Kahn gesagt "es geht um Größeres". Damit kann eigentlich doch nur unsere schöne deutsche Heimat gemeint sein - was sonst sollte noch ein bisschen größer sein als Kahn?
Wie Angela Merkel, die vor Jahren nach einem kurzen Frühstück mit Stoiber in Wolfratshausen plötzlich die Nr. 2 war, hätte auch Oliver Kahn nach seiner Degradierung Amok laufen können. Beide - Angela und Olli - haben es nicht getan. Im Gegenteil: Merkel hat einfach weitergemacht. Und Kahn hat mit seiner angekündigten Heldentat, nämlich auf der Reservebank Weltmeister zu werden, unseren alltäglichen Mühen ein Symbol gegeben. Und sind wir nicht alle Kahns, die wir täglich auf der Reservebank unser Bestes geben, damit Deutschland wieder "Weltmeister" wird?
Freilich, Weltmeister werden die Deutschen immer nur, wenn eine wahrlich nationale Aufgabe sie beflügelt. 1954 ging es darum, 50 Millionen Weltkriegstoten zu zeigen, dass sie eine zu schlechte Meinung von unseren Jungs hatten. 1974 schüttelte eine verschworene 68er WG den Muff von tausend Jahren nicht nur aus den Talaren, sondern auch aus den Trainingshosen. 1990 feierte das vereinigte Deutschland mit Helmut Kohl das Ende der Fußball-Geschichte. Und heute? Tja, wenn sich die Koalition rechtzeitig entschlösse, das Sterbegeld wieder zu beleben - das gäbe eine Aufbruchsstimmung im Land und auf dem Rasen! Da müsste Costa Rica zittern!
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